Was ist die negative proaktive Visualisierung? Epiktet erklärt es uns ganz einfach:
Tod und Verbannung und Alles, was als schrecklich erscheint, soll dir täglich vor Augen schweben, am meisten aber der Tod; so wirst du nie weder an etwas Gemeines denken, noch etwas allzuheftig begehren.
– Epiktet, Handbüchlein der Moral, 21
Um es vorweg zu nehmen: der Stoiker konzentriert sich bei dieser Übung nicht ewig auf was Negatives – im Gegenteil, er gewinnt Gelassenheit und Freude dadurch und akzeptiert die Natur der Dinge.
Es ist auch durchaus wichtig, nicht über das vermeintlich Schlimme ewig zu grübeln, also in einer Endlos-Schleife an die Katastrophe zu denken, sondern konstruktiv und realistisch an die Planung der Lösung zu gehen.
Bei der negativen proaktiven Visualisierung, auch premeditatio malorum, geht es darum, auf den Worst-Case vorbereitet zu sein. Sich also Gedanken zu machen, was im schlimmsten Fall passieren kann und wie man darauf reagiert.
Und auf Letzteres kommt es an: wie reagiert man auf etwas Schlimmes? Was würde der weise Stoiker tun?
Da für den Stoiker externe Dinge gleichgültig sind, dient diese Methode eher dazu, das Gemüt zu beruhigen und den möglichen Ängsten und Sorgen zuvorzukommen. Es kommt ihm auf eine tugendhafte Reaktion an.
Es hat also keinen Sinn, dass wir uns wer weiß was darauf einbilden, als wären wir die wirklichen Eigentümer. Wir dürfen es brauchen und nutzen, so lange es dem Herrn des Geschenkes gefällt. Wir müssen, was uns auf unbestimmte Zeit verliehen ist, stets zur Rückgabe bereithalten und der Aufforderung dazu ohne Murren nachkommen.
– Seneca, Trostschrift an Marcia, 10
Diese Methode ist Teil der stoischen Disziplinen des Wollens und der Handlung.
So hat man mit dieser Form der Visualisierung die Möglichkeit, seine aktuelle Situation wertzuschätzen und als nicht selbstverständlich zu erkennen. Das erfüllt den Stoiker mit Dankbarkeit (ohne von den Dingen abhängig zu sein!).
Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Vielleicht würde der Stoiker antworten: Danke für das Glas. Das ist ein schönes Glas. Schau, da ist sogar was drin…
Jenes eilt ins Dasein, dieses aus dem Dasein, und von dem, was im Werden begriffen ist, ist manches bereits wieder verschwunden. Eine unaufhörliche Flut von Veränderungen erneuert stets die Welt, so wie der ununterbrochene Lauf der Zeit uns immer wieder eine neue, unbegrenzte Dauer in Aussicht stellt.
Wer möchte nun in diesem Strome, wo man keinen festen Fuß fassen kann, irgendeines von den vorübereilenden Dingen besonders wertschätzen?
Das wäre gerade so, als wenn sich jemand in einen vorüberfliegenden Sperling verlieben wollte, der ihm in einem Augenblicke wieder aus den Augen entschwunden ist. Ist doch selbst jegliches Menschenleben von ähnlicher Art, nichts anderes, als das Aufdampfen von Blut und das Einatmen der Luft.
– Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen VI, 15
Beispiel: “Es könnte passieren, dass ich einen geliebten Menschen verliere!
Aber das ist ok, denn es ist die Natur des Menschen zu sterben, und ich habe ihn ja nie “besessen”. Auch ich werde irgendwann sterben. In der Zwischenzeit erfreue ich mich an der Anwesenheit und der Umgebung dieses Menschen.”
Oft muss unser Herz daran erinnert werden, dass unsere Liebe solchen gilt, die von uns bald abscheiden werden oder schon im Abscheiden begriffen sind.
– Seneca, Trostschrift an Marcia, 10
Beispiel: “Ich könnte mein Augenlicht verlieren und damit meinen Beruf nicht mehr ausüben. Dann kann ich meine Familie nicht mehr ernähren oder meinen Lebensstandard halten.
Ich könnte aber auch alternative Einkommensquellen finden, die auch für Blinde geeignet sind. Ich weiß, dass mir meine Familie und andere Menschen helfen werden. Ich weiß, dass ich auch Hilfe vom Staat erhalten kann. Ich weiß auch, dass Besitztum kein anzustrebendes Gut ist, daher erfreue ich mich an den Sachen, die ich bereits habe. Genauso erfreue ich mich daran, dass mein Augenlicht ja noch vorhanden ist und ich all die vielfältigen Eindrücke wahrnehmen kann. Ich weiß, dass Gesundheit vergänglich ist. Ich bin dankbar für so viel “Licht” und für meine Gesundheit.”
Es ist eben nicht selbstverständlich, dass man gute Menschen um sich herum hat, gesund ist oder eine gute Gesundheit hat. Es ist erstrebenswert, aber es liegt außerhalb unser Kontrolle. Allzu oft vergessen wir das und diese Übung holt uns wieder zurück ins “Hier und Jetzt” und hilft uns beim Nicht-Festhalten bzw. Loslassen.
Leben bedeutet Veränderung. Das wussten die Stoiker, daher hat diese Übung auch den Vorteil, dass man sich frühzeitig einen Plan B erstellen kann und für die Zukunft gerüstet ist.
Denke nicht an den notwendigen Besitz der dir fehlenden Güter, vielmehr an das, was jetzt noch für dich da ist, und wähle dir unter den vorhandenen Gütern die schätzbarsten aus und erinnere dich, welche Anstrengungen du ihrethalben machen würdest, um sie zu erlangen, wenn sie dir fehlten. Jedoch hüte dich zugleich, daß dieses Wohlgefallen daran dich nicht an ihre Überschätzung gewöhne; denn sonst müßte ihr einstiger Verlust dich nur beunruhigen.
– Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen, VII, 27
Beispiel: Es kann passieren, dass mein Auto kaputt geht. Autos sind komplexe Maschinen und vielen Umständen ausgeliefert, auch ist es die Natur von Materie, dass sie irgendwann kaputt geht. Bis dahin sollte ich mich an der Nutzung oder dem Anschauen dieses Autos erfreuen und mir einen Plan überlegen, was passiert, wenn es mal kaputt geht oder ich ein neues brauche. Dadurch kann ich gelassen mit dieser Situation umgehen.
Besondere Anwendung kann diese Methode auch bei der persönlichen Zielplanung finden, indem man sich Gedanken macht, was alles schief gehen kann und wie man damit umgeht. Man sollte dabei allerdings immer das Thema Kontrolle und stoisches Zielesetzen im Auge behalten.
Wenn man sich vor Augen hält, dass man nicht weiß, wann man stirbt, so verhilft die negative proaktive Visualisierung einem dann doch dazu, den Moment und das Leben wertzuschätzen und diese Einmaligkeit in jedem Moment zu genießen.
Marcus Aurelius sagt im zweiten Buch Absatz 1 seiner Selbstbetrachtungen:
Sage zu dir in der Morgenstunde: Heute werde ich mit einem unbedachtsamen, undankbaren, unverschämten, betrügerischen, neidischen, ungeselligen Menschen zusammentreffen. Alle diese Fehler sind Folgen ihrer Unwissenheit hinsichtlich des Guten und des Bösen.
Diese Einstellung kann man als eine Art Schutzschild sehen, die einem vor falschen Erwartungen schützt und damit die Seelenruhe unterstützt.
Man kann diese Übung auf den Verlust seiner Dinge anwenden, darauf, was wäre, wenn man bestimmte Dinge oder Personen nie gehabt oder getroffen hätte, einen geliebten Menschen verliert oder die Gesundheit nachlässt. Auch kann man sich überlegen, wie das eigene Leben gewesen wäre, wenn man nicht in dieser Zeit, diesem Land, diesem Kontinent, Planeten oder gar Sonnensystem geboren wäre.
Auf welche “Katastrophen” könntest du dich vorbereiten?