Marcus Aurelius' Morgenmeditation

Man muß sich beizeiten sagen: ich werde einem vorwitzigen, einem undankbaren, einem schmähsüchtigen, einem verschlagenen oder neidischen oder unverträglichen Menschen begegnen.
Denn solche Eigenschaften liegen jedem nahe, der die wahren Güter und die wahren Übel nicht kennt. Habe ich aber eingesehen, einmal, daß nur die Tugend ein Gut und nur das Laster ein Übel, und dann, daß der, der Böses tut, mir verwandt ist, nicht sowohl nach Blut und Abstammung, als in der Gesinnung und in dem, was der Mensch von den Göttern hat, so kann ich weder von jemand unter ihnen Schaden leiden — denn ich lasse mich nicht verführen — noch kann ich dem, der mir verwandt ist, zürnen oder mich feindlich von ihm abwenden, da wir ja dazu geboren sind, uns gegenseitig zu unterstützen, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne einander dienen.
Also ist es gegen die Natur, einander feindlich zu leben. Und das tut doch, wer auf jemand zürnt oder ihm entgegenwirkt.

  • Selbstbetrachtungen 2.1

In dieser Reflexion von Marcus Aurelius steckt einiges drin.

Er beginnt damit, sich zu erinnern, dass ihm Menschen begegnen werden, die negative Verhaltensweisen an den Tag legen werden - vielleicht wird er diese Haltungen auch bei sich erkannt haben. Doch er zeigt direkt Verständnis für diese Menschen: sie haben sich noch nicht intensiv mit dem Guten und dem Schlechten auseinandergesetzt, denn sonst würden sie so nicht handeln. Die Menschen handeln also nicht absichtlich so - sie wissen es nicht besser. Hier klingt der sokratische Intellektualismus durch: ein fundiertes Wissen (eine weise Haltung) darüber zu haben, was gut ist, reicht, um das Gute auch zu tun.

Das Gute zu erkennen, ist ein Teil seiner Lösung dieses "Problems". Ein weiterer Teil ist zu erkennen, dass alle Menschen miteinander verwandet sind. Vorallem ist es die freie Vernunftfähigkeit, die uns Menschen eint. Da Marcus Aurelius erkannt hat, dass dieser stoische freie Wille (das hegemonikon bzw. die prohairesis) unabhängig von den Außendingen agieren kann, folgt für ihn dies: seine Seele kann nicht in Unruhe geraten, wenn er es nicht zulässt - er sich also nicht verführen lässt. Die Zustimmung, ob etwas ein Gut oder ein Übel ist, obliegt ganz frei ihm selbst.

Darüber hinaus ist es diese Vernunftverwandtschaft, die es ihm gebietet, dass man sich gegenseitig unterstützt, da alle Menschen (bewusst oder unbewusst) am Gelingen des Gemeinwohls arbeiten, genauso wie Körperteile zum "Gelingen des Körpers" beitragen. Es geht ihm darum, den großen (natürlichen, kosmischen, göttlichen) Sinnzusammenhang (logos) herzustellen.

Da er nun diesen Zusammenhang erkannt hat, kann er sagen, dass es gegen die Natur ist, einander feindlich gegenüber zu leben, indem man auf andere Menschen wütend ist.

Was für eine kraftvolle Perspektive in einer anfangs verstörend wirkenden Textpassage.