Sooft du unter dem Fehler eines anderen zu leiden hast, frage dich, ob du nicht auch in ähnlicher Weise gefehlt, ob du z.B. nicht auch schon das Geld, das Vergnügen, den Ruhm und ähnliches für ein Gut gehalten hast. Dann wirst du deinen Zorn bald lassen, zumal wenn dir dazu noch einfällt, daß er gezwungen war. Denn was kann er tun? Aber wenn es möglich wäre, befreie ihn von jenem Zwang! Selbstbetrachtungen 10.30
Sooft dir jemand mit seiner Unverschämtheit zu nahe tritt, lege dir die Frage vor, ob es nicht Unverschämte in der Welt geben müsse? Denn das Unmögliche wirst du doch nicht verlangen. Und dieser ist nun eben einer von den Unverschämten, die es in der Welt geben muß. Dasselbe gilt von den Schlauköpfen, von den Treulosen, von jedem Lasterhaften. Und sobald dir dieser Gedanke geläufig wird, daß es unmöglich ist, daß solche Leute nicht sind, siehst du dich auch sofort freundlicher gegen sie gestimmt. Ebenso frommt es, daran zu denken, welche Tugend die Natur jeder dieser bösen Richtungen gegenüber dem Menschen verliehen hat. So gab sie z.B. der Lieblosigkeit gegenüber, gleichsam als Gegengift die Sanftmut. Überhaupt aber steht dir frei, den Irrenden eines Besseren zu belehren. Und ein Irrender ist jeder Böse: er führt sich durch sein Unrecht selbst vom vorgesteckten Weg ab. Was aber schadet dir´s? Vermag er etwas wider deine Seele? — Und was ist denn Übles oder Fremdartiges daran, wenn ein zuchtloser Mensch tut, was eben eines solchen Menschen ist. Eher hättest du dir selbst darüber Vorwürfe zu machen, daß du nicht erwartet hast, er werde solches tun. Deine Vernunft gibt dir doch Anlaß genug zu dem Gedanken, daß es wahrscheinlich sei, er werde sich auf diese Weise vergehen, und nun, weil du nicht hörst auf das, was sie dir sagt, wunderst du dich, daß er sich vergangen hat! Jedesmal also, wenn du jemand der Treulosigkeit oder der Undankbarkeit beschuldigst, richte den Blick in dein eigenes Innere. Denn offenbar ist es doch dein Fehler, wenn du einem Menschen von solchem Charakter dein Vertrauen schenktest oder wenn du ihm eine Wohltat erwiesest mit allerlei Nebenabsichten und ohne den Lohn deiner Handlungsweise nur in ihr selbst zu suchen. Was willst du denn noch weiter, wenn du einem Menschen wohlgetan? Ist´s nicht genug, daß du deiner Natur entsprechend gehandelt? strebst du nach einer besonderen Belohnung? Als ob das Auge Bezahlung forderte dafür, daß es sieht, und die Füße dafür, daß sie schreiten! Und wie Aug´ und Fuß dazu geschaffen sind, daß sie das Ihrige haben in der Erfüllung ihrer natürlichen Verrichtungen, so hat auch der Mensch, zum Wohltun geschaffen, sooft er ein gutes Werk getan und anderen irgendwie äußerlich beistand, eben nur getan, wozu er bestimmt ist, und empfängt darin das Seinige. Selbstbetrachtungen 9.42