Um die Stoiker zu verstehen, nicht zwingend um die vielen praktischen Tipps anwenden zu können, benötigt man ein Wissen um deren Erkenntnistheorie. Eine Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit den Voraussetzungen von Erkenntnis sowie dem Zustandekommen von Wissen. Das ist die Disziplin der Vorstellung (oder discipline of assent im Englischen)
Die ist der Theorie-Teil zur Erkenntnistheorie der Stoiker. Den Praxis-Teil findest du hier.
Die Erkenntnistheorie (Epistemologie) ist Teil der stoischen Logik, genauer der Dialektik. Die Dialektik ist in der Stoa eine eigenständige Erkenntnis- und Sprachtheorie. Es ist die Lehre vom Wahren und Falschen und dem was nichts von beidem ist (bspw. Falsches, Wahrscheinliches und Doppelbedeutungen). Damit ist die Dialektik das Instrument der Stoiker, um wahre und falsche Vorstellungen zu unterscheiden.
Der folgende Artikel gibt eine große Einführung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat. Am Ende des Artikels findet ihr weitere Quellen.
Die Hierarchie und die Inhalte haben sich natürlich im Laufe der Zeit und im Zuge verschiedener Lehrer der Stoa verändert. Ich stelle mir die Hierarchie innerhalb der stoischen Philosophie wie folgt vor:
(die fett dargestellten Themen werden in diesem Artikel behandelt):
In diesem Artikel geht es darum, wie der Stoiker von einem Sinneseindruck zu Vorstellungen und über das Kriterium der Wahrheit zu Wahrheit und Wissen gelangt (Disziplin der Zustimmung), das er in Sprache ausdrücken kann.
Die Sinnhaftigkeit von/der Logik wurde schon immer gerne angezweifelt, aber Epiktet hat, mal wieder, eine kurze und prägnante Antwort dazu. So steht in Unterredungen 2.25:
Einst sagte einer von denen, die zugegen waren: Überzeuge mich von dem Nutzen der Logik.
Hierauf versetzte Er: “Willst du, dass ich dir dies beweisen soll?” – “Ja.” – “also muss ich einen beweisenden Schluss anwenden?” – Dies gestand jener. – “Woher weißt du denn, dass ich keinen Trugschluss machen werde?” – Als jener hierzu stille schwieg, so fuhr Er also fort: Du siehst, wie du selbst gestehest, dass jene Wissenschaft notwendig ist, da du ohne dieselbe nicht einmal erkennen kannst, was notwendig ist oder was nicht notwendig ist.
Epiktet deutet hier an, dass man die Logik nur mit Kenntnis der Logik beweisen kann. Ansonsten könne man nicht erkennen, ob es ein richtiger oder falscher Schluss sei.
In der griechischen Stoa hat die Logik noch eine größere Rolle gespielt als in der römischen Stoa.
Dennoch ermahnt Marcus Aurelius sich in seinen Selbstbetrachtungen Buch 8 Absatz 13 der Wichtigkeit der vollständigen stoischen Lehre:
Jederzeit und womöglich bei jeder Vorstellung mußt du die Lehren der Physik, der Ethik, der Dialektik in Anwendung bringen.
In dieser Textstelle (Buch 7, 67) ordnet er die Logik und Physik der Ethik unter:
Dessen sei stets eingedenk und denke außerdem daran, daß zu einem glückseligen Leben nur sehr wenig erforderlich ist, und solltest du auch die Hoffnung aufgeben müssen, es in Dialektik und Naturkunde weit zu bringen, du deshalb doch nicht darauf verzichten darfst, ein freigesinnter, bescheidener, geselliger und gegen Gott gehorsamer Mensch zu werden.
Dank Diogenes Laertios Buch 7.45 wissen wir einiges über Zenons Logik und auch über die Lehren des Chrysipp, d.h. es gibt wenige direkte Quellen zu dem Thema, denn Laertios war kein Stoiker, sondern seine Bücher fassen verschiedene philosophische Lehren zusammen. Dennoch bieten sie eine gute Ausgangsbasis.
Am Anfang der stoischen Erkenntnistheorie stehen die Sinneseindrücke, Eindrücke in die Seele oder Psyche, und diese werden als Vorstellungen (phantasia) bezeichnet.
Von den Vorstellungen werden zwei Arten unterschieden, die für die Erkenntnis wichtig sind:
Darüber hinaus gibt noch eine Unterscheidung zwischen sinnlichen und nicht sinnlichen Vorstellungen. Sinnliche Vorstellungen werden von den Sinnesorganen empfangen und nicht sinnliche Vorstellungen sind Wahrnehmungen des Verstandes, wie beispielsweise unkörperliche Dinge und vom Verstand wahrgenommene Dinge.
Es gibt auch noch Erscheinungsbilder (phantasma), Wahnvorstellungen des Geistes, zu denen auch Träume zählen sowie rationale Vorstellungen (Gedanken) und irrationale Vorstellungen und durch Fachbildung erworbene oder von selbst entstandene Vorstellungen.
Die erkennende (kataleptische) Vorstellung ist die Art von Vorstellung, aus der etwas Wahres entsteht (siehe oben, Diog 7.54). Es ist ein Sinneseindruck von etwas Bestehendem, der frei von Täuschungen durch Triebe, Gefühle und Meinungen ist. Das Kriterium ist, ob die Sichtweise der Wirklichkeit unmittelbar einleuchtend ist. Diese Fähigkeit besitze nur der stoische Weise.
Diogenes erklärt ab 7.52 in "Leben und Lehren der Philosophen", dass es ein Zentralorgan der Seele, das sogenannte hegemonikon, gebe, von dem aus sich das sogenannte Pneuma ausbreitet, das in Verbindung mit den Sinnen steht. Wahrnehmung bedeutet bei den Stoikern folgendes:
Die Disziplin der “Zustimmung” (engl. Assent) ist es nun die Fähigkeit, eine ungetrübte Vorstellung zu erzielen, also dass Wahrheit erkannt wird. Dazu braucht man Achtsamkeit. Sie stellt die Basis für alles weitere dar (nach Diog. 7.49). Die Freiheit von Begierden ist das Ziel und der Weg der Disziplin der Akzeptanz (Physik) mit den Tugenden Mäßigung und Mut. Auf Basis einer korrekten Wahrnehmung kann man die praktische Weisheit in eine weise Handlung (Ethik) einfließen lassen.
Es gibt Sub-Disziplinen der Disziplin der Zustimmung:
Bei lasterhaftem Verhalten in diesen Tugenden (Übereiltheit, Leichtfertigkeit, Widerlegbarkeit, Leichtsinnigkeit) kann man Vorstellungen gewinnen, die verwirrt und leichtfertig sind und mit denen kein Erkennen von Wahrheit möglich ist.
Das, was durch die Sinne oder den Verstand wahrgenommen wird, erzeugt einen Eindruck in der Seele, der, wenn die Wahrnehmung frei von Täuschungen durch Triebe, Gefühle und Meinungen ist, zu Wahrheit und eventuell Wissen wird. Die Sub-Disziplinen der Disziplin der Zustimmung zeigen uns mögliche Wahrnehmungsfehlerquellen auf.
Wissen ist bei den Stoikern ein gesichertes Verständnis von den Vorstellungen, das durch keine Überlegung der Vernunft zu erschüttern ist.
Der Verstand ist durch Sprache fähig, das auszudrücken, wozu der Verstand von der Vorstellung angeregt wurde. Dazu bildet er Begriffe, die auch noch dann bestehen, wenn das Wahrgenommen nicht mehr wahrgenommen wird. An dieser Stelle passieren auch “Fehler” bzw. Fehlinterpretationen, sodass diese Form der Begriffsbildung hinterfragt und kontrolliert werden muss. Vernunft und Begriff können sich in einem Dilemma befinden, da das eine nicht ohne das andere auskommen kann. (nach Philosophie der Stoa)
Da sich Erkenntnis innerhalb der Sprache abspielt, haben sich die Stoiker eingehend mit der Sprache, Grammatik, Rhetorik befasst sowie eine stringente Aussagenlogik entworfen.
Bei unserer Wahrnehmung sollten wir also davon ausgehen, dass es sich überwiegend um Meinung statt um Wahrheit handelt. Unsere Weltsicht scheint demnach immer von Gefühlen, Trieben, Erwartungen und Vorurteilen geprägt zu sein. Dann wird auch klar, was Epiktet mit diesem Zitat meint: