Die Tugend dieser Woche des Virtues Project ist die Wahrhaftigkeit.

Passend dazu möchte hier ein paar Zitate von Stoikern zur Wahrhaftigkeit beleuchten (ohne aber tiefer auf die Erkenntnistheorie einzusteigen).

Das griechische Wort1 für Wahrhaftigkeit ist die alētheia und ihr Gegenteil ist die pseudologia2 , die falsche Rede bzw. Lüge. Das Wort tauchte das erste mal bei Parmenides in seinem Gedicht "Über die Natur" auf 3 und wurde von ihm als Gegenteil zu doxa (Meinung) gebraucht. Letheia (also ohne a) kommt von lanthano und bedeutet "verborgen sein", "unbemerkt bleiben" und die Vorsilbe a- kehrt die Bedeutung um.

Wenn wir uns das Gegenteil, die pseudologia, anschauen, dann erkennen wir dort auch das Wort logos wieder. Die Bedeutung des Wortes ist breit (s. auch der logos bei Heraklit), doch es hat immer mit wahrer Erkenntnis sowie den Regeln und Gesetzmäßigkeiten dahinter zu tun - oder eben mit Nicht-Lüge. Damit geht es bei der Wahrhaftigkeit um das "Unverborgene".

Im stoisch-philosophischen Kontext finden wir die Wahrhaftigkeit oft auch als "Wahrheit" oder als "wahr" übersetzt wider.

Welchen Stellenwert das Wahrhafte hat, können wir bei Marcus Aurelius nachlesen:

Alles Schöne, von welcher Art es auch sein mag, ist an und für sich schön, es ist in sich selbst vollendet, und das Lob bildet keinen Bestandteil seines Wesens. Das Lob macht einen Gegenstand weder schlechter noch besser. Das Gesagte gilt von allem, was man im gemeinen Leben schön nennt, wie zum Beispiel von den Erzeugnissen der Natur und der Kunst. Was wahrhaft schön ist, bedarf keines Lobes, ebensowenig wie das Gesetz, ebensowenig wie die Wahrheit, ebensowenig wie das Wohlwollen, wie die Sittsamkeit. Wie könnte das durch Lob erst gut oder durch Tadel schlecht werden? Verliert der Smaragd an seinem Werte, wenn er nicht gelobt wird? Und ebenso das Gold, das Elfenbein, der Purpur, eine Leier, ein Degen, eine Blume, ein Strauch?

  • Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen 4.20

Und dass die Aletheia zu den höchsten Dingen gehört - den Tugenden - das erwähnt er so:

Wenn du im menschlichen Leben etwas findest, was höher steht als die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Mäßigkeit, der Mut, mit einem Worte, als ein Gemüt, das in Hinsicht seiner vernunftgemäßen Handlungsweise mit sich selbst und hinsichtlich der Ereignisse, die nicht in seiner Gewalt stehen, mit dem Schicksal zufrieden ist, wenn du, sage ich, etwas Besseres findest, so wende dich dem mit der ganzen Macht deiner Seele zu und ergötze dich an diesem höchsten Gute.

  • Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen 3.6

Im stoischen Kontext findet man die Wahrheit/Wahrhaftigkeit in Kontext der Logik, Epistemologie, wieder. Die Stoiker sprechen uns die Fähigkeit zu, durch unsere Vernunft das Wahrhafte zu erkennen:

Man hat von der Natur selbst Maßstab und Richtscheit erhalten, um zu prüfen und mit Gewissheit zu finden, was wahr und was nicht wahr ist; und man wendet doch den Fleiß nicht an, um hinzuzufügen und zu verrichten, was noch fehlt, sondern im Gegenteil, man ist bemüht, was man an Hilfsmitteln der Wahrheitserkenntnis noch hat, wegzuschaffen oder zu verlieren!

  • Epiktet, Unterredungen, 2.20

Hier erwähnt Epiktet, dass wir Menschen von Natur aus die Vernunft (Maßstab und Richtscheit) erhalten haben, zu prüfen, was wahrhaftig ist und was nicht. Er kritisiert, dass manche diese Fähigkeit nicht weiterentwickelt haben oder gar versuchen sie zu beseitigen. Für Epiktet ist es klar, dass wir Menschen diese Fähigkeit besitzen, genauso wie es klar ist, dass ein Weinstock kein Ölbaum werden kann.

Und wenn du täglich trainierst, dann sage nicht, dass du Philosophie treibst (das Wort klingt zu anmaßend), sondern dass man die Freilassungszeremonie an dir verrichtet. Denn dies ist die wahre Freiheit.

  • Epiktet, Unterredungen, 4.1

Dies ist eine der schönsten Stellen in den ganzen Unterredungen. Die praktische Philosophie, das Bereinigen der eigenen Ansichten von den Dingen, die nicht wahrhaftig sind, ist eine tägliche Freilassungszermonie auf dem Weg zur wahren Freiheit - die eben nur auf dem Wahrhaftigen beruht. "Wahrheit macht frei" - so steht es auch im Johannes-Evangelium.

Bei Diogenes Laertios finden wichtige Stellen zur stoischen Erkenntnistheorie und dem Weg zur Wahrheit:

Als Unterscheidungszeichen (Kriterium) der Wahrheit gilt ihnen die ergreifende (begriffliche) Vorstellung, d.h. diejenige, die zur Grundlage das Wirkliche hat...

  • Diogenes Laertios, Leben und Lehren der Philosophen, Buch 7

Für die Stoiker führt der Weg zur Wahrheit durch das richtige Verständnis unserer Vorstellungen und deren korrekte Beurteilung. Die "phantasia kataleptike" (die erfassende Vorstellung) spielt dabei eine zentrale Rolle als Kriterium der Wahrheit.

Aber abgesehen von der erkenntnistheoretischen Dimension haben wir auch noch die ethische Dimension der Wahrhaftigkeit.

So zum Beispiel ganz klar bei Marcus Aurelius:

Was nicht pflichtgemäß ist, das tue nicht; was nicht wahr ist, sage nicht; denn deine Willensrichtung ist ganz von dir abhängig. Selbstbetrachtungen 12.17

Die ethische Konnotation von Wahrhaftigkeit bedeutet, auf Basis einer wahren Erkenntnis eine Aussage zu treffen; oder sonst nichts zu sagen. Denn:

Die Wahrheit hat festen Bestand, die Lüge hat kein Dauer. Seneca, Briefe an Lucilius, 120

Möge die Wahrhaftigkeit mit dir sein.



  1. im Lateinischen: veritas 

  2. https://lsj.gr/wiki/%CF%88%CE%B5%CF%85%CE%B4%CE%BF%CE%BB%CE%BF%CE%B3%CE%AF%CE%B1 

  3. https://en.wikipedia.org/wiki/Aletheia 

Vorheriger Beitrag