Siebentes Buch

1

Was ist Schlechtigkeit? Nichts anderes, als was du schon oft gesehen hast. Und so halte bei jedem Zufall den Gedanken bereit: “Es ist nur etwas, das du schon oft gesehen hast.” Dann wirst du erkennen, daß alles, wovon die Geschichte alter, mittlerer und neuer Zeit handelt, und womit sich der Staat wie die Familie jetzt beschäftigt, in jeder Beziehung das nämliche sei. Nichts Neues, alles gewöhnlich und von kurzer Dauer.

2

Deine Lebensgrundsätze (dogmata) werden stets ihre Gültigkeit für dich behalten, solange dir die ihnen entsprechenden Grundbegriffe nicht abhanden gekommen sind.
Das aber kannst du verhindern, indem du dieselben immer wieder zu neuem Leben in dir anfachst und über das, was notwendig ist, nicht aufhörst nachzudenken - wobei dich nichts zu stören vermag, weil alles, was zu deinem Gedankenleben von außen hinzutritt, als solches keinen Einfluß auf dasselbe hat.
Halte dich also nur so, daß es dir äußerlich bleibt! Hast du aber deine Lebenshaltung einmal eingebüßt: Du kannst sie wieder gewinnen. Sieh die Dinge wieder gerade so an, wie du sie angesehen hattest! Darin besteht alles Wiederaufleben.

Wiederholung macht den Weisen. Marcus erinnert sich, dass er sich regelmäßig erinnern muss, damit sich seine dogmata einprägen. Gleichzeitig ist das für ihn auch der Weg, falls er vom Weg abgekommen ist: einfach wieder dort anfangen, wo man aufgehört hat. Ohne Drama.

3

Das Leben ist freilich weiter nichts als ein eitles Jagen nach Pomp, als ein Bühnenspiel, wo Züge von Last- und anderem Vieh erscheinen, oder ein Lanzenrennen, ein Herumbeißen junger Hunde um den hingeworfenen Knochen, ein Geschnappe der Fische nach dem Bissen, die Mühen und Strapazen der Ameisen, das Hin- und Herlaufen unruhig gemachter Fliegen, oder ein Guckkasten, wo ein Bild nach dem andern abschnurrt: aber mitten in diesem Getreibe festzustehen mit ruhigem und freundlichem Sinn, das eben ist unsere Aufgabe.

4

Bei einer Rede gilt es achtzuhaben auf die Worte, bei einer Handlung auf den erstrebten Erfolg. Dort ist die Frage nach der Bedeutung jedes Ausdrucks, hier handelt sich´s um den Zweck, der verfolgt wird.

5

Die Frage ist, ob meine Einsicht ausreicht, was ich mir vorgenommen, auszuführen oder nicht. Genügt sie, so brauche ich sie als ein Werkzeug, das die Natur mir an die Hand gegeben. Reicht sie nicht aus, dann überlasse ich entweder das Werk dem, der besser imstande ist es zu vollbringen, wofern dies nicht für mich geradezu unziemlich ist, oder ich handle so gut ich kann mit Zuziehung dessen, den zur Vollendung eines gemeinnützigen Werkes eben meine Einsicht als Ergänzung bedarf. Denn alles, was ich tue, mag ich es nun durch meine eigene Kraft oder mit Hilfe eines andern zustande bringen — ­dem Wohl des Ganzen muß es immer dienen.

6

Wieviel Hochgepriesene sind bereits der Vergessenheit überantwortet und wie viele, die ihnen Loblieder sangen, sind schon hinweggeräumt!

7

Du hast dich nicht zu schämen, wenn du Hilfe brauchst. Tu nur dein Mögliches! wie bei der Erstürmung einer Mauer jeder Soldat eben auch nur sein Möglichstes tun muß! Denn wenn du gelähmt auch die Brustwehr allein nicht erklimmen kannst, bist du es mit Hilfe eines andern wohl imstand.

8

Laß dich das Zukünftige nicht anfechten! Du wirst, wenn´s nötig ist, schon hinkommen, getragen von derselben Geisteskraft, die dich das Gegenwärtige beherrschen läßt.

9

Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten. Nahezu nichts ist sich fremd. Eines schließt sich dem anderen an und schmückt mit ihm vereint dieselbe Welt. Aus allem, was ist, bildet sich doch nur die eine Welt; in allem, was ist, lebt nur der eine Gott. Es ist nur ein Stoff und ein Gesetz, in den vernunftbegabten Wesen die eine Vernunft. Nur eine Wahrheit gibt´s und für die Wesen derselben Gattung auch nur eine Vollkommenheit.

10

Alles Stoffliche verschwindet gar bald im Urstoff des Ganzen und jede wirkende Kraft wird gar bald in die Vernunft des Ganzen aufgenommen. Aber ebenso schnell findet die Erinnerung an alles ihr Grab im ewigen Zeitlauf.

11

Für die vernünftigen Wesen ist eine naturgemäße Handlungsweise auch immer zugleich eine vernunftgemäße.

12

Von selbst stehe aufrecht — ­nicht aufrecht gehalten!

13

Was in dem einzelnen Organismus die Glieder des Leibes, das sind in dem Gesamtorganismus die einzelnen vernunftbegabten Wesen. Auch sie sind zum Zusammenwirken geschaffen. Sagst du dir nur recht oft: Du seist ein Glied in dem großen System der Geister, so kann ein solcher Gedanke nicht anders als dich aufs tiefste berühren. Siehst du dich aber nur als einen Teil dieses Ganzen an, so liebst du die Menschen auch noch nicht von Herzen, so macht dir das Gutestun noch nicht an sich selbst Freude, so übst du es nur als eine Pflicht, so ist es noch keine Wohltat für dich selber.

14

Mag den Teilen, die durch den Stoß berührt werden können, von außen her zustoßen, was da will, dann mögen sich die beschädigten Teile, wenn sie wollen, beschweren. Ich habe jedoch, solange ich ein Ereignis nicht für ein Übel halte, noch nicht dabei gelitten. Es aber nicht dafür zu halten, steht mir ja ganz frei.

15

Der Smaragd spricht: was auch einer tun oder sagen mag, ich muß Smaragd sein und meine Farbe bewahren. So sprech auch ich: mag einer tun und sagen, was er will, ich muß die Tugend bewahren.

16

Die Seele beunruhige und erschrecke sich nicht. Kann´s ein anderer, mag er´s tun. Sie selbst für sich sei solchen Regungen unzugänglich. Daß aber der Leib nichts leide, dafür mag er, wenn er kann, selbst sorgen, und wenn er leidet, mag er´s sagen. Doch die Seele, der eigentliche Sitz der Furcht und jeder schmerzlichen Empfindung, kann nicht leiden, wenn du ihr nicht die Meinung, daß sie leide, erst beibringst. Denn an und für sich, und wenn sie sich nicht selbst die Bedürfnisse schafft, ist die Seele bedürfnislos und deshalb auch, wenn sie sich nicht selbst beunruhigt, unerschütterlich.

17

Glücklich sein heißt einen guten Charakter haben. Was machst du also hier, Einbildung? Geh um der Götter willen, wie du kamst, denn ich brauche dich nicht! Du bist gekommen nach deiner alten Gewohnheit Ich zürne dir nicht, nur geh fort!

18

Wäre es möglich, daß dir der Wechsel, dem alles unterworfen ist, Furcht einjage? Was könnte denn geschehen, wenn sich die Dinge nicht veränderten? Was gibt es Angemesseneres für die Natur als diese Veränderung? Könntest du dich denn nähren, wenn die Speisen sich nicht verwandelten? Überhaupt hängt von dieser Eigenschaft der Nutzen jedes Dinges ab. Und siehst du nun nicht, daß die Veränderung, der du unterworfen bist, von derselben Art und ebenso notwendig ist für das Ganze?

19

Alle Körper nehmen durch das Weltall, wie durch einen reißenden Strom, ihren Lauf und sind, wie die Glieder unseres Leibes untereinander, so mit jenem Ganzen innig verbunden und wirken mit ihm. Wie manchen Chrysipp, wie manchen Sokrates, wie manchen Epiktet hat schon die Welle verschlungen! Diesen Gedanken hege beim Anblick jedes Menschen und jedes Gegenstands.

20

Das eine liegt mir am Herzen, daß ich nichts tue, was dem Willen dermenschlichen Natur zuwider ist, oder was sie in dieser Art oder was sie gerade jetzt nicht will.

21

Bald wird alles bei dir und bald wirst auch du bei allen vergessen sein.

22

Es ist ein dem Menschen eigentümlicher Vorzug, daß er auch die liebt, die ihm weh getan haben. Und es gelingt ihm, wenn er bedenkt, daß Menschen Brüder sind, daß sie aus Unverstand und unfreiwillig fehlen, daß beide, der Beleidigte und der Beleidiger nach kurzer Zeit den Toten angehören werden, und vor allem: daß eigentlich niemand ihm schaden, d.h. sein Inneres schlechter machen kann als es vorher gewesen.

23

Wie man aus Wachs etwas formt, so formt die Allnatur aus den Urstoffen die verschiedenen Wesen; jetzt das Roß, dann, wenn dieses zerschmolz, den Baum, bald den Menschen, bald etwas anderes, und ein jegliches nur zu kurzem Bestand. Aber wie es dem Kistchen gleichgültig war, daß man´s gezimmert, so auch, daß man es nun wieder auseinander nimmt.

24

Ein zorniges Gesicht ist widernatürlich. Wenn die Sanftmut im Innern erstirbt, erlischt auch die äußere Zier, daß sie nicht überall wieder angefacht werden kann. Schon daraus geht hervor, daß jeder grollende Blick vernunftwidrig ist. Wem das Gewissen ausgegangen, der hat keine Ursache zu leben.

25

In kurzem wird die allwaltende Natur alles, was du siehst, verwandeln und aus demselben Stoff andere Dinge bereiten und aus deren Stoff wieder andere Dinge, damit sich die Welt immer verjüngt.

26

Sobald dir jemand weh getan hat, mußt du sogleich untersuchen, welche Ansicht über Gut und Böse ihn dazu vermochte. Denn sowie dir dies klar geworden wirst du Mitleid fühlen mit ihm und dich weder wundern noch erzürnen. Entweder nämlich findest du, daß du über das Gute gar keine wesentlich andere Ansicht hast als er; und dann mußt du ihm verzeihen. Oder du siehst den Unterschied; dann aber ist´s ja nicht so schwer, freundlich zu bleiben dem, der sich geirrt hat.

Das ist eine gute Übung: Welche Motive hat der andere?

27

Denke nicht so oft an das, was dir fehlt, als an das, was du hast. Und wenn dir bewußt wird, was von diesem das Allerbeste sei, mußt du dir klarmachen, wie du´s gewinnen könntest, im Fall du es nicht besäßest. Je zufriedener dich aber sein Besitz macht, um so mehr mußt du dich hüten, ihn mit einem solchen Wohlgefallen zu betrachten, daß dich sein Verlust beunruhigen könnte.

28

Ziehe dich in dich selbst zurück! Die uns beherrschende Vernunft ist ja so beschaffen, daß sie am Rechttun und an der daraus hervorgehenden Ruhe Genügen findet.

29

Mache den Einbildungen ein Ende! Hemme den Zug der Leidenschaften! Behalte die Gegenwart in deiner Gewalt! Mache dich mit dem vertraut, was dir oder einem anderen begegnet. Trenne und zerlege alles in seine Urkraft und seinen Stoff. Gedenke der letzten Stunde! Fehler, die andere begehen, laß ruhen, wo sie begangen sind.

30

Richte deine ganze Aufmerksamkeit auf das, wovon gesprochen wird, versenke deinen Geist in die Betrachtung der Begebenheiten und ihrer Ursachen.

31

Dein Schmuck sei Einfalt, Bescheidenheit und Gleichgültigkeit gegen alles, was zwischen Tugend und Laster in der Mitte liegt. Liebe das Menschengeschlecht, folge der Gottheit! Alles, sagt jemand, geschieht nach bestimmten Gesetzen, ob Götter sind oder ob aus Atomen alles entsteht, gleichviel. Genug eben, daß alles gesetzmäßig ist.

32

Vom Tod: Der Tod ist Zerstreuung oder Auflösung in Atome oder Vernichtung, ein Auslöschen oder ein Versetzen.

33

Vom Schmerz: Ist er unerträglich, führt er auch den Tod herbei; ist er anhaltend, so läßt er sich auch ertragen. Wenn nur die Seele dabei an sich hält, bewahrt sie auch ihre Ruhe und leidet keinen Schaden. Die vom Schmerz getroffenen Glieder mögen dann, wenn sie können, sich selbst darüber aussprechen.

34

Vom Ruhm: Betrachte die Gesinnungen der Ruhmsüchtigen, von welcher Art sie sind und was sie einerseits meiden und andererseits suchen! Bedenke ferner: Wie bei den übereinandergewirbelten Sandhügeln, die früher hergewehten von den später aufgehäuften bedeckt werden, so wird auch im Leben das Frühere vom Späteren bedeckt.

35

Plato fragt: “Wem hoher Sinn und Einsicht in die Zeiten und in das Wesen der Dinge verliehen ward — ­glaubst du, daß der das menschliche Leben für etwas Großes halten kann?” und er antwortet: “Unmöglich kann ich´s.” Nun, und ebenso unmöglich ist´s, daß ich den Tod für etwas Furchtbares halte.

36

Ein Ausspruch des Antisthenes: “Königlich ist´s, wohlzutun und Schmähungen ruhig über sich ergehen zu lassen.”

37

Schändlich ist´s, wenn die Seele nur Macht hat über unsere Mienen, nicht über sich selbst, wenn sie nur jene, nicht aber sich selber umzugestalten vermag.

38

Wie kann dich denn bald dies, bald jenes ärgern, das dich doch nichts angeht?

39

Freude den ewigen Göttern! doch uns auch Freude verleihe!

40

Die Früchte sind zum Pflücken, so das Leben auch. Hier keimt das Leben, dort der Tod.

41

Wenn ich samt Kind von den Göttern einmal verlassen bin, Grund ist auch dafür. — ­

42

Was recht und gut, trag´ ich mit mir herum.

43

Mit andern weinen oder jubeln, nicht geziemt´s.

44

Blicke oft zu den Sternen empor — ­als wandeltest du mit ihnen. Solche Gedanken reinigen die Seele von dem Schmutz des Erdenlebens.

Das ist die stoische Übung Der Blick von oben.

45

Platonische Aussprüche: “Diesem würde ich mit Recht antworten: du urteilst unrichtig, o Mensch, wenn du meinst, daß ein Mann, der auch nur einigen Wert hat, die bedenkliche Wahl zwischen Leben und Sterben ins Auge fassen und nicht vielmehr nur das erwägen soll, ob, was er tue, recht oder unrecht und die Tat eines Guten oder Schlechten sei.”

46

“So verhält es sich in der Tat, ihr Männer von Athen. Den Posten, auf den einer, in der Meinung, daß es der beste sei, sich selbst gestellt hat oder auf den er von seinem Feldherrn gestellt worden ist, muß er — ­dünkt mich — ­auch in Gefahr behaupten und dabei weder Tod noch irgend etwas anderes mehr in Betracht ziehen, als die Schande.”

47

“Sieh gut zu, mein Freund, ob das Edle und Gute nicht in etwas anderem bestehe als in Erhaltung eines fremden oder des eigenen Lebens! Denn wer wirklich ein Mann ist, soll nicht wünschen, so oder so lange zu leben, noch mit feiger Liebe am Leben hängen, sondern die Bestimmung hierüber Gott überlassen und glauben, was selbst die Weiber wissen, daß auch nicht einer seinem Schicksal entrinne, er denke nur daran, wie er die ihm noch beschiedene Lebenszeit so gut als möglich verbringe.”

48

Schön ist, was Plato gesagt hat, daß, wer vom Menschen reden wolle, das Irdische gleichsam von einem höheren Standpunkt aus betrachten müsse. So die Versammlungen, Kriegszüge, Feldarbeiten, Ehen, Friedensschlüsse, Geburten, Todesfälle, lärmenden Gerichtsverhandlungen, verödeten Ländereien, die mancherlei fremden Völkerschaften, ihre Feste, Totenklagen, Jahrmärkte, diesen Mischmasch aus den fremdartigsten Bestandteilen.

Das ist die stoische Übung Der Blick von oben.

49

Betrachte die Vergangenheit, den steten Wechsel der Herrschaft. Daraus kannst du auch die Zukunft vorhersehen, denn sie wird durchaus gleichartig sein und kann unmöglich von der Regel der Gegenwart abweichen. Daher ist es auch einerlei, ob du das menschliche Leben vierzig oder zehntausend Jahre hindurch erforschest. Was wirst du mehr sehen?

50

“Zur Erde muß, was von der Erde stammt; Doch zu des Himmels Pforte drängt Jegliche Art, die seiner Flur entsprossen — ­” Was nichts anderes besagt, als daß sich die ineinander verschlungenen Atome trennen und die empfindungslosen Elemente sich zerstreuen.

51

“Durch Essen, Trinken und durch andres Gaukelwerk Sind wir bemüht, den Tod uns fern zu halten. Doch müssen wir den Fahrwind, der von oben streicht, Sei´s auch zu unserm Leid, hinnehmen ohne Weh.”

52

Mag jemand immerhin kampfgeübter sein als du! Er sei nur nicht menschenfreundlicher, nicht anspruchsloser, nicht ergebener in das Schicksal, nicht nachsichtsvoller den Fehlern der Nebenmenschen gegenüber.

53

Bei einer Wirksamkeit, die sich nach göttlichem und menschlichem Gesetz vollzieht, ist niemals Gefahr. Nichts hast du zu befürchten, sobald deine Tätigkeit, ihr Ziel in aller Ruhe verfolgend, sich nur auf eine deiner Bildung angemessene Art entfaltet.

54

Immer steht es bei dir, das gegenwärtige Geschick zu segnen, mit denen, die dir grade nahe stehen, nach Recht und Billigkeit zu verfahren, und die Gedanken, die sich dir eben darbieten, ruhig durchzudenken, ohne dich an das Unbegreifliche zu kehren.

55

Sieh dich nicht nach den leitenden Grundsätzen anderer um, sondern halte den Blick auf das Ziel gerichtet, worauf dich die Natur hinweist, sowohl die Allnatur durch das Schicksal als deine eigene durch deine Pflichten. Jeder aber hat die Folgen seiner Natur zu tragen. Nun sind aber die übrigen Wesen wegen der Vernünftigen geschaffen, wie überhaupt alles weniger Edle für das Edlere. Die Vernunftwesen aber sind eines um des anderen willen da. Der erste Trieb des Menschen ist sein Trieb zur Geselligkeit, das zweite in ihm die Überlegenheit gegenüber sinnlichen Reizen. Denn vernünftiger und verständiger Tatkraft ist es eigen, sich selbst zu beschränken und weder den Anforderungen der Sinne noch der Triebe je zu unterliegen. Beide sind tierisch. Die Vernunft will aber den Vorrang haben und sich nicht von jenen meistern lassen und das mit Recht. Denn sie ist von Natur dazu da, sich jener überall zu ihren Zwecken zu bedienen. Der dritte Vorzug in der Einrichtung eines vernünftigen Wesens besteht darin, nicht blindlings beizupflichten, noch sich täuschen zu lassen. Mit diesen Vorzügen ausgestattet, gehe die herrschende Vernunft vorwärts. Und sie hat, was ihr gebührt.

56

Lebe so, als solltest du jetzt scheiden und als wäre die dir noch vergönnte Zeit ein überflüssiges Geschenk.

57

Liebe das, was dir begegnet und zugemessen ist, denn was könntest du ziemlicher tun?

58

Bei allem, was dir widerfährt, stelle dir diejenigen vor Augen, denen dasselbe widerfahren ist, und die sich dabei widerwillig, voll eitler Verwunderung oder höchst vorwurfsvoll bewiesen haben. Denn wolltest du diesen wohl gleichen? oder wolltest du nicht lieber solche ungehörige Eigenschaften anderen überlassen, selbst aber nur darauf achten, wie du deine Erfahrungen zu benutzen hast? Und du wirst sie aufs beste benutzen, sie werden dir einen herrlichen Stoff liefern, wenn du keine andere Absicht hast, als dich bei allem, was du tust, als edler Mensch zu zeigen, dessen eingedenk, daß alles andere gleichgültig für dich ist nur nicht, wie du handelst!

59

Blicke in dein Inneres! Da drinnen ist eine Quelle des Guten, die nimmer aufhört zu sprudeln, wenn du nur nicht aufhörst nachzugraben.

60

Auch der Körper muß eine feste Haltung haben und weder in der Bewegung noch in der Ruhe diese Festigkeit verleugnen. Denn wie deine Seele auf deinem Gesicht zu lesen ist und eben darum deine Mienen zu beherrschen und zu formen weiß, so soll auch der ganze Körper ein Ausdruck der Seele sein. Aber wohlgemerkt! ohne gesuchte Pose!

61

Dieselbe Kunst, die in den Kampfspielen gilt, wo man gerüstet sein muß auch auf solche Streiche, die unvorhergesehen, plötzlich kommen, herrscht auch im Leben.

62

Kenntest du die Quellen, aus denen bei so vielen Urteile und Interessen fließen, du würdest nach der Menschen Lob und Zeugnis nicht begierig sein.

63

Keine Seele, heißt es irgendwo, kommt anders um die Wahrheit als wider ihren Willen. Nicht anders also auch um die Gerechtigkeit und Mäßigkeit und Güte, um alle diese Tugenden. — ­Je mehr man das beherzigt, desto milder wird man gegen alle.

64

Bei jeder Unlust sei dir der Gedanke zur Hand, daß sie nichts Entehrendes sei, noch die herrschende Denkkraft verschlimmere. Denn weder an und für sich als etwas Körperliches betrachtet, noch in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft, kann diese von jener zerrüttet werden. Doch möge dir bei den meisten schmerzlichen Empfindungen der Ausspruch Epikurs dienlich sein, daß sie ebensowenig unerträglich als ewig dauernd sind, wofern du nur ihrer Grenzen eingedenk bist und nichts hinzudichtest. So manches ist dem Schmerze eng verwandt, was nur mehr auf verborgene Weise lästig wird, z.B. Schläfrigkeit, innere Glut, Appetitlosigkeit. Drum sage dir, wenn so etwas dich trifft, nur geradezu: du erliegst ja dem Schmerz.

65

Hüte dich selbst gegen Unmenschen so gesinnt zu sein, wie Menschen gegen Menschen gesinnt zu sein pflegen.

66

Woher wissen wir, ob nicht Telauges eine edlere Denkungsart hatte, als Sokrates? Denn hier ist es nicht genug, daß Sokrates auf ruhmvollere Art starb, daß er in seinen Unterredungen mit den Sophisten größere Gewandtheit zeigte, daß er mit mehr Geduld die Nacht unter dem eiskalten Himmel zubrachte, daß er dem Befehle, den Salaminier herbeizuführen, sich, wie es schien, mit noch größerer Seelenstärke widersetzte, daß er, was man, selbst wenn es wahr wäre, allermeist bezweifeln möchte, auf den Straßen stolz einherschritt, sondern man muß vielmehr folgende Fragen in Erwägung ziehen: Wie war Sokrates´ Seele beschaffen? Genügte ihm die Gerechtigkeit gegen Menschen und die Frömmigkeit gegen die Götter? Hat er sich nie ohne Grund über die Schlechtigkeit anderer geärgert, nie ihrer Unwissenheit nachgegeben? Hat er die vom Ganzen ihm zugeteilten Geschicke nie mit Befremden ausgenommen oder unter sie, als unter ein unerträgliches Joch, sich gebeugt? Nie seine Vernunft zur Genossin der Leiden des armseligen Fleisches gemacht?

67

Die Natur hat dich nicht so dem großen Teig einverleibt, daß du dich nicht eingrenzen und das deinige allein aus dir selbst heraus tun könntest. Du kannst fürwahr ein göttlicher Mensch sein, ohne von irgendeiner Seele gekannt zu werden. Und magst du daran verzweifeln, in der und jener Wissenschaft oder Kunst jemals dich auszuzeichnen: ein freier, edler, hilfreicher, gottesfürchtiger Mensch kannst du immer werden.

68

Unverrückt kannst du dein Leben in höchster Geistesfreudigkeit (thymidia) hinbringen, wenn auch alle Menschen nach Herzenslust ein Geschrei wider dich erheben und wenn auch wilde Tiere die schwachen Glieder dieses um dich angesammelten Fleischgemenges zerreißen sollten. Denn was hindert dich, deiner denkenden Seele trotz alledem ihre Heiterkeit, ein richtiges Urteil über die Umstände und eine erfolgreiche Benutzung der ihr dargebotenen Gelegenheiten zu bewahren? Dann sagt das Urteil zum Ereignis: “Das bist du dem Wesen nach, auch wenn du der Meinung nach anders erscheinst!” und die Benutzung spricht zur Gelegenheit: “Dich suchte ich eben; denn immer bietet mir die Gegenwart Stoff zur Ausübung einer vernünftigen und staatsbürgerlichen Tugend und überhaupt einer Kunst, die eines Menschen oder Gottes würdig ist.” Steht ja doch jedes Begegnis im innigsten Bezuge zu Gott oder zum Menschen und ist mithin nichts Unerhörtes oder schwer zu Behandelndes, sondern vielmehr etwas Bekanntes und Leichtes.

69

Die sittliche Vollkommenheit bringt es mit sich, daß wir jeden Tag leben können, als wäre er der letzte, frei von Zorn, Schlaffheit und Verstellung.

70

Den unsterblichen Göttern ist es keine Last, die ganze Ewigkeit hindurch fortwährend eine solche Masse Nichtswürdiger zu dulden — ­vorausgesetzt, daß sie sich um sie kümmern. Und du — ­du wolltest ungeduldig werden? und bist vielleicht gar selbst einer von den Bösen?

71

Lächerlich ist es, der Schlechtigkeit anderer aus dem Wege gehen zu wollen, was unmöglich ist, aber der eigenen nicht, was doch möglich ist.

72

Was die vernünftige und zu staatsbürgerlicher Tugend berufene Tatkraft nicht vernünftig, noch gemeinnützig findet, das hält sie mit gutem Grund unter der Würde.

73

Wenn du ein gutes Werk getan und dem anderen wirklich wohl getan hast, warum bist du dann gar so töricht, ein Drittes zu begehren, nämlich den Ruhm ob solcher Tat oder irgendeine Vergeltung?

74

Niemand wird es überdrüssig, sich Vorteile zu verschaffen. Vorteil verschaffen aber ist eine Tätigkeit an die wir von Natur gewiesen sind. Darum werde nie müde, dir Vorteile zu verschaffen, indem du selber Vorteil schaffst.

75

Die Allnatur fühlte den Drang zur Weltschöpfung. Nun aber geschieht alles, was geschieht, nach dem Gesetz der notwendigen Folge, oder es ist auch das Wichtigste dessen Verwirklichung die weltbeherrschende Vernunft eigens anstrebt, ohne Grund vorhanden. In vielen Fällen wird es deine Seelenruhe erhöhen, wenn du dessen eingedenk bist.

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