Zehntes Buch

1

Wirst du denn, liebe Seele, wohl einmal gut und lauter und einig mit dir selbst und ohne fremde Umhüllung und durchsichtiger sein, als der dich umgebende Leib? Froh werden eines liebenswürdigen und liebenden Charakters? Wirst du einmal befriedigt und bedürfnislos sein, nach nichts dich sehnend, nichts begehrend, weder Geistiges noch Ungeistiges, um daran eben nur Genuß zu haben? weder mehr an Zeit, noch mehr an Raum oder Gelegenheit, um den Genuß weiter auszudehnen? weder eine günstigere Temperatur der Luft, noch eine ansprechendere in deiner menschlichen Umgebung? vielmehr zufrieden sein mit eben der Lage, in der du dich befindest, dich überhaupt des Vorhandenen erfreuen und dich überzeugen, daß dir alles zu Gebote steht, daß sich alles wohl verhält und daß es von den Göttern kommt, sich also wohlverhalten muß, sofern es ihnen selbst wohlgefällig ist und sofern sie´s ja nur geben mit Rücksicht auf die Seligkeit des vollkommensten Wesens, des guten und gerechten und schönen, jenes Wesens, das alles dasjenige erzeugt und zusammenhält und umgibt und in sich faßt, was, wenn es sich auflöst, der Grund zur Entstehung eines anderen von ähnlicher Beschaffenheit wird? Wirst du mit einem Worte wohl einmal eine Seele sein, die mit Göttern und Menschen so verkehrt, daß du weder an ihnen etwas auszusehen hast, noch daß sie dich beschuldigen können?

2

Nachdem du erforscht, was deine Natur fordert, was rein nur ihrem Gebot entspricht, so führe dasselbe nun auch aus oder laß es zu, sofern dadurch das Triebleben an dir nicht schlechter wird. Dann frage dich, was ebendieser Seite deines Wesens entspricht und vergönne es dir, sofern dadurch das Vernünftige an dir nicht leidet — ­das Vernünftige, das immer zugleich auch ein Geselliges ist. Und wenn du diesen Grundsätzen folgst, bedarf es keines anderen Bestrebens.

3

Entweder hast du von Natur die Kraft, jedes dir begegnende Geschick zu ertragen oder es gebricht dir an dieser natürlichen Kraft. Trifft dich nun ein Schicksal, das zu ertragen du stark genug bist, sei nicht ungehalten und ertrage es durch deine natürliche Kraft. Übersteigt es aber diese natürliche Kraft, sei auch darüber nicht unwillig. Was dich zugrunde richtet, wird auch zugrunde gehen. Jedoch vergiß auch nicht, daß du bestimmt bist, alles zu ertragen, was erträglich und leidlich zu machen deine Vorstellung die Macht hat, durch den Gedanken nämlich, daß es dir heilsam oder daß es deine Pflicht sei.

4

Irrt sich jemand, so belehre ihn mit Wohlwollen und zeige ihm, was er übersehen hat! Vermagst du das aber nicht, so klage dich selbst an oder auch dich selbst nicht einmal!

5

Alles, was dir geschieht, ist dir von Ewigkeit her vorausbestimmt. Jener große Zusammenhang von Ursache und Wirkung hat beides, dein Dasein und dieses dein Geschick, von Ewigkeit aufs innigste verwoben.

6

Mag die Welt ein Gewirr von Atomen oder ein geordnetes Ganzes sein, mein erster Grundsatz sei: Ich bin ein Teil des Ganzen und stehe unter der Herrschaft der Natur. — ­Der zweite: Ich hänge mit allen gleichartigen Teilen eng zusammen. Eingedenk des ersten Grundsatzes werde ich nicht unzufrieden sein, was mir auch für Anteil am Ganzen zugedacht ist. Es kann nichts einem Teil schaden, was dem Ganzen zuträglich ist. Denn das Ganze enthält nichts, was ihm nicht selbst zuträglich wäre. Sämtliche Wesen haben das miteinander gemein, daß sie von keinem ihnen äußerlichen Umstande gezwungen werden können etwas hervorzubringen, was ihnen selbst schädlich wäre. Und dasselbe gilt natürlich auch von der ganzen Welt. Was aber dem Ganzen nützt, kann dem Teile nicht schädlich sein, d.h. ich darf nicht klagen über das, was von dem All mir zugeteilt wird. Sofern ich aber mit den mir gleichartigen Teilen zusammenhänge, werde ich nichts gegen das Gemeinwohl unternehmen, vielmehr werde ich, mit steter Rücksicht auf die mir gleichartigen Wesen, mein Streben ganz auf das gemeine Beste richten und vom Gegenteil ablenken. Führe ich diese Vorsätze aus, muß mein Leben glücklich dahinfließen, so glücklich, als nach Erfahrung das Leben eines Bürgers verläuft, das von einer seine Mitbürger beglückenden Tat zur anderen fortschreitet und mit Freuden übernimmt, was ihm der Staat auch auferlegt.

7

Alle Teile des Ganzen, das heißt die vom Weltraum umschlossenen Dinge müssen notwendig zerstört oder mit einem richtigen Ausdruck umgewandelt werden. Wäre nun dies von Natur aus ein Übel für sie, so stünde das Ganze bei dem steten Wechsel der Teile und ihrem vorausbestimmten Untergang unter keiner guten Leitung. Denn sollte die Natur selbst die Einrichtung getroffen haben, ihren eigenen Teilen Schlimmes zuzufügen, ja sie nicht nur ins Unglück zu stürzen, sondern diesen Sturz sogar notwendig machen? Oder sollte es ihr verborgen sein, daß derartiges einträte? Beides ist nicht zu glauben. Wollte nun jemand, von der Allnatur absehend, diese Umwandlung nur aus dem Wesen der Dinge ableiten, so ist es bei alledem lächerlich, einerseits zu behaupten, daß die Teile des Ganzen sich ihrer Anlage nach verwandeln müssen, und andererseits sich über manches Naturereignis zu verwundern oder zu ärgern, zumal die Auflösung in jene Teile erfolgt, aus denen das Ding entstanden ist, sei diese nun eine Zerstäubung der Grundstoffe, woraus es zusammengesetzt war, oder ein Übergang, z.B. der festen Teile in das Erdige, der geistigen in das Luftige, so daß auch diese in den Keimstoff des Weltganzen aufgenommen werden, mag dieses nun nach einem bestimmten Kreislauf der Zeit in Feuer auflodern oder sich in stetem Wechsel wieder erneuen. Bilde dir aber nicht ein, daß jene festen und geistigen Teile von Geburt an dir kleben. Dies alles ist dir vielmehr erst von gestern und vorgestern durch Speisen und eingeatmete Luft zugeflossen. Mithin wird nur das, was deine Natur auf solche Art angenommen, nicht aber das, was von der Mutter Natur dir angeboren ist, umgewandelt. Wolltest du aber auch vorgeben, daß diese jenes mit deiner besonderen Eigentümlichkeit so eng verflochten habe, so halte ich dieses Vorgeben in der Tat für einen nichtigen Einwurf gegen meine Behauptung.

8

Hast du die Namen: gut, ehrfürchtig, wahrhaft, verständig, gleichmütig, hochherzig dir beigelegt, so sorge dafür, daß du sie nie verlierst oder immer bald wieder erwirbst. Aber bedenke auch, was sie besagen! Verstand — ­ein sorgsam erworbenes, gründliches Wissen um einzelnes? Gleichmut — ­ein bereitwilliges Aufnehmen des von der Natur uns Zuerkannten? Hochherzigkeit — ­ein Erhabensein des Geistes über jede leise oder laute Regung im Fleisch, über das, was man Ehre nennt, auch über den Tod und alles dieses. Vermagst du nun, dich diesen Namen zu erhalten, ohne doch gerade danach zu streben, daß andere dich bei ihnen nennen, so wirst du ein anderer Mensch sein und ein anderes Leben anfangen. Bleibst du aber noch ferner, wie du bisher warst, fährst fort in einer Lebensweise, die dich befleckt und aufreibt, so bist du ein gewissenloser Mensch, ein Mensch, der eben nichts als leben will, und gleichst jenen Halbmenschen, die man mit wilden Tieren kämpfen läßt, die nämlich, wenn sie mit Wunden bedeckt und mit Blut besudelt sind, inständigst bitten, man möchte sie doch bis auf den folgenden Tag aufheben, um — ­wieder vorgeworfen zu werden denselben Krallen und denselben Zähnen. Also tauche dein Wesen in jene wenigen Namen. Und wenn du es nur irgend ermöglichen kannst, halte bei ihnen aus, wie einer, der auf den Inseln der Seligen gelandet. Merkst du aber, daß man dich heraustreiben will und daß du nicht obsiegen wirst, so ziehe dich eilig in einen Winkel zurück wo du dich wahren kannst? oder — ­verlasse das Leben! — ­Um jener Namen eingedenk zu bleiben, ist es kein schlechtes Hilfsmittel, sich die Götter vorzuhalten, die nicht sowohl begehren, daß man sie schmeichelnd verehre, als daß alle vernunftbegabten Wesen ihnen ähnlich werden, und daß der Mensch tue, was des Menschen ist.

9

Hast du hohe und heilige Wahrheiten dir ohne selbständiges Forschen eben nur eingebildet, so werden sie dir auch wieder abhanden kommen, so können Komödienspiel, Anfeindung, Furcht, Schrecken, Knechtschaft sie dir täglich entreißen. Es gilt aber, sich eine solche Anschauungs- und Lebensweise anzueignen, daß man das Vorliegende sofort abzutun jederzeit bereit ist und doch dabei weder die geistige Ausbildung außer acht läßt, noch das Vertrauen verleugnet, womit uns jede tiefere Erkenntnis der Dinge erfüllt, das zwar an sich ein innerliches ist, doch aber nicht verborgen bleiben kann. Denn alsdann wirst du deiner Lauterkeit, deiner Würde froh werden, was jedes Ding seinem Wesen nach ist, welche Stelle es in der Welt einnimmt, wie lang es seiner Natur nach dauern wird, aus welchen Teilen es besteht, wem es zufallen, wer es geben und rauben kann.

10

Eine kleine Spinne ist stolz darauf, wenn sie eine Fliege erjagt hat, jener Mensch, wenn er ein Häschen, dieser, wenn er in seinem Netz eine Sardelle, ein dritter, wenn er einen Eber oder Bären, und noch ein anderer, wenn er Sarmaten fängt. Sind aber diese, wenn man die Triebfeder untersucht, nicht insgesamt Räuber?

11

Erwirb dir die Kenntnis, die Art der Verwandlung aller Dinge ineinander wissenschaftlich zu untersuchen. Merke beständig darauf und übe dies in diesem Fach! Denn nichts fördert so gut die Hochherzigkeit. Wer diese besitzt, hat seinen Leib schon abgestreift und wenn er bedenkt, daß er in nicht gar langer Zeit dieses alles verlassen und aus dem Menschenleben scheiden muß, so übergibt er sich in betreff dessen, was er leistet, ganz allein der Rechtschaffenheit, in betreff seiner Schicksale aber der Natur. Was jedoch andere von ihm sagen oder urteilen oder ihm zuleid tun mögen, das läßt er sich nicht anfechten. Denn mit den zwei Punkten, erstens das gut zu tun, was man zu tun hat, und zweitens in Liebe hinzunehmen, was einem beschieden ist, läßt er alle anderen Aufgaben und Ziele fahren. Er will nichts, als auf dem Pfad des Gesetzes seinen Zweck zu verfolgen und also der Gottheit nachzustreben, die gleichfalls geraden Wegs auf ihr Ziel zugeht.

Bedenke oft Wandel und Vergänglichkeit (<Übung)

12

Was für ein Bedenken hält dich ab, vor allem zu sehen, was der Augenblick zu tun gebietet? Freilich mußt du's völlig erwogen haben, ehe du getrost und unbeirrt daran gehen kannst. Ist dir also noch irgend etwas daran unklar, so halte an und ziehe die Besten zu Rat. Sonst aber, tritt auch ein Hindernis dir in den Weg, schreite nur besonnen vorwärts, den einmal empfundenen Antrieben folgend und treu dich haltend an das, was dir als das Rechte erschienen ist. Denn dies zu verfolgen bleibt immer das Beste. Ihm untreu werden heißt von seiner eigenen Natur abfallen. Darum sage ich, daß wer in allen Stücken der Vernunft gehorcht, ruhig und leicht bewegt, heiter und ernst zugleich zu sein vermag.

Marcus besinnt sich hier darauf, dass es darauf ankommt, sich dem zu widmen, was im Augenblick zu tun ist - und sich im Zweifel Rat zu holen. Doch wenn es klar ist, was im Augenblick zu tun ist, so gilt es dies auch zu tun - auch wenn es ein Fehler sein kann. Doch es war die im Augenblick beste Abwägung und Entscheidung - und das ist es, worauf es ankommt. Kein Grund zu Sorge (= besonnen vorwärts gehen) - nur Möglichkeiten zu lernen.

13

Frage dich, sobald du des Morgens aufgestanden bist: geht es dich etwas an, ob ein anderer das Gute und Rechte tut? Nichts geht´s dich an. Hast du vergessen, was das für Leute sind, die ewig nur zu loben oder zu tadeln wissen? wie sie´s treiben auf ihrem Lager, bei Tafel, überall, was es für Diebe und Räuber sind, nicht äußerlich mit Händen und Füßen, sondern innerlich an dem kostbarsten Teile ihres Wesens, mit dem sie sich doch, wenn sie wollten, Glauben, Ehrfurcht Wahrheit, Sitte, den guten Genius zu eigen machen könnten.

14

Der wohlgesittete und ehrfurchtsvolle Mensch sagt zur Natur, der alles spendenden und wieder nehmenden: gib, was du willst, und nimm, was du willst. Er spricht´s nicht etwa, zu besonderem Mut sich aufraffend, sondern aus reinem Gehorsam und aus Liebe.

15

Du hast nur noch wenig zu leben. Lebe wie auf einem Berge! Gleichviel wo in der Welt du lebst, denn die Welt ist ein Menschenverein. Und die Menschen sollen eben den wahren Menschen, den der Natur gemäß lebenden schauen und beschauen. Mögen sie ihn immerhin aus dem Wege räumen, wenn sie ihn nicht vertragen können.

16

Nun gilt es nicht mehr zu untersuchen, was ein tüchtiger Mensch sei, sondern einer zu sein.

17

Der Gedanke an die Ewigkeit und an das Weltall sei dir stets nahe: verglichen mit dem All wird dir dann alles als ein Körnlein und mit der Ewigkeit verglichen wie ein Handumdrehen erscheinen.

18

Jedes Sinnenwesen, das du betrachtest, stelle dir in seiner Auflösung, Verwandlung, gleichsam Verwesung oder Vernichtung vor oder von der Seite, die ihm von der Natur gleichsam als die vergehende bestimmt ist.

Bedenke oft Wandel und Vergänglichkeit (<Übung)

19

Was sind denn die Esser und Trinker und Schläfer und Erzeuger und was sie sonst machen? was sind sie, die sich aufblähen und so hoch drein schauen, die so zornig sind und so von oben herab urteilen? Vor kurzem — ­wem haben sie gedient und um welchen Preis? Und wieder eine kleine Weile — ­wo sind sie dann?

Bedenke oft Wandel und Vergänglichkeit (<Übung)

20

Nicht bloß, was die Natur dem Menschen schickt, ist ihm zuträglich, sondern es ist ihm auch gerade dann von Nutzen, wann sie´s schickt.

21

Der Regen — ­ein Liebling der Erde; doch auch des blauen Himmels Liebling. Das Weltall liebt zu tun (sagt man nicht: “liebt, zu tun?”) alles, was eben geschehen soll. Ich also sage zu ihm: deine Liebe ist auch meine.

22

Entweder du lebst hier, wie du gewohnt bist, oder du kommst anderswohin, wie du am Ende auch gewollt oder du stirbst und hast ausgedient. Das ist alles. Drum sei guten Muts!

23

Vergiß nicht, daß du da, wo du lebst, ganz dasselbe hast, was du im Gebirge oder an der See oder sonstwo, wohin du dich sehnst, haben würdest. Dem Hirten, sagt Plato, der so bei seiner Hürde auf dem Berge weidet, ist´s nicht anders zumute, wie dem, den eine Stadtmauer umgibt.

24

Wozu das Herrschende in mir? Und was mache ich jetzt selbst aus ihm? Oder wozu bediene ich mich jetzt seiner? Ist es ohne Einsicht? Oder von der Gemeinschaft getrennt und abgerissen? Oder so an das Fleisch gekettet und mit ihm verschmolzen, daß es alle seine Bewegungen teilen muß?

25

Wer seinem Herrn entläuft, ist ein Ausreißer. Der Herr ist das Gesetz; wer also der Befolgung des Gesetzes sich entzieht, ist ein Ausreißer. Nicht minder aber verdient diesen schimpflichen Namen auch der, der sich erzürnt oder betrübt oder fürchtet. Denn er will nicht, daß geschehen wäre oder geschehe oder geschehen soll, was der alles Verwaltende, der allen Gesetz ist, bestimmt.

26

Der eine vertraut dem Mutterschoß den Samen und geht dann fort. Dann nimmt eine andere wirkende Kraft den Samen auf, verarbeitet ihn und vollendet die Bildung des Kindes. Welch ein Wesen aus solchem Stoff! Wieder schluckt die Mutter durch den Schlund Nahrung. Dann nimmt diese eine andere wirkende Kraft auf und bewirkt daraus Empfindung, Reife und überhaupt Leben und Stärke und wer weiß wieviele und welcherlei Dinge sonst! Betrachte nur die verborgenen Wirkungen und lerne die hierbei tätige Kraft kennen, wie wir auch die Kraft, vermöge der die Körper sich senken oder steigen, zwar nicht sichtbar aber doch geistig wahrnehmen.

27

Denke stets daran, daß alles, wie es jetzt ist, auch einst war und dann schließe, daß es künftig ebenso sein werde. Stelle dir alle gleichartigen Schauspiele und Auftritte vor, die du aus Erfahrung oder aus der Geschichte kennst, z.B., den ganzen Hof Hadrians, den ganzen Hof Antonins, den ganzen Hof Philipps, Alexanders und den Hof des Krösus. Überall dasselbe Schauspiel, nur von anderen Personen gegeben.

28

Ein Mensch, der seinem Unwillen über irgend etwas Luft macht und sich beklagt, unterscheidet sich im Grunde genommen gar nicht von — ­einem Stück Vieh, das beim Schlachten mit allen Vieren um sich stößt und dazu schreit. Und anders ist auch nicht einmal der, der auf seinem Lager hingestreckt stillschweigend seufzt, wenn man ihm den Verband anlegt. Denn dem vernunftbegabten Wesen ist es doch gegeben — ­und das ist seine Auszeichnung, bereitwillig sich in das zu schicken, was ihm geschieht. Sich schicken wenigstens ist notwendig für alle.

29

Bei jeglichem Dinge, womit du beschäftigt bist, frage dich, ob der Tod darum, weil er dich seiner beraubt, etwas so Schreckliches ist.

Zur Übung memento mori

30

Sooft du unter dem Fehler eines anderen zu leiden hast, frage dich, ob du nicht auch in ähnlicher Weise gefehlt, ob du z.B. nicht auch schon das Geld, das Vergnügen, den Ruhm und ähnliches für ein Gut gehalten hast. Dann wirst du deinen Zorn bald lassen, zumal wenn dir dazu noch einfällt, daß er gezwungen war. Denn was kann er tun? Aber wenn es möglich wäre, befreie ihn von jenem Zwang!

31

Siehst du, Satyrio, den Sokratiker, so stelle dir den Eutyches oder Hymenes vor; siehst du den Euphrates, so denke an Eutyches oder Silvanus und auch an Alkiphron und Tropäophorus und auch bei Xenophons Anblick falle dir Kniton oder Severus ein, und indem du auf dich selbst zurückschaust, stelle dir einen anderen Kaiser und bei jedem wieder seinesgleichen vor! Dann falle dir zugleich die Frage ein: “Wo sind nun jene?” Nirgends oder wer weiß wo. Denn auf diese Art wird dir alles Menschliche stets nur als ein Rauch, als ein wahres Nichts erscheinen, zumal, wenn du dich zugleich erinnerst, daß, was sich einmal verwandelt hat, in der unendlichen Zeit nicht mehr sein werde. Wie lange also du noch? Warum genügt es dir nicht, diese kurze Spanne Zeit mit Anstand hinter dich zu bringen? Was für schwierige Dinge und Aufgaben sind es denn, denen du aus dem Wege gehen möchtest? Aber was ist denn dies alles anders als Übungen für die Vernunft, daß sie die Dinge des Lebens immer tiefer und wahrer erschauen lerne? Also verweile nur bei jeglichem Gegenstande so lange, bis du ihn dir völlig zu eigen gemacht hast, wie ein starker Magen sich alles zu eigen macht, oder wie ein helles Feuer, was du hineinwerfen magst, in Glanz und Flamme verwandelt.

32

Niemand müsse mit Wahrheit von dir sagen können, daß du nicht lauter, daß du nicht rechtschaffen seist; vielmehr sei der ein Lügner, der also von dir urteilen wollte. Das alles aber kommt nur auf dich an. Denn wer will dich hindern, rechtschaffen und lauter zu sein? Fasse nur den Entschluß, nicht länger zu leben, ohne ein solcher Mann zu werden. Auch die Vernunft billigt es keineswegs, wenn du es nicht bist.

33

Ruhe nicht eher, als bis du es so weit gebracht hast, daß ein der menschlichen Bestimmung entsprechendes Handeln in jedem einzelnen Falle dir ganz dasselbe ist, was ein Leben in Herrlichkeit und Freude für die Genußsüchtigen. Denn eben als einen Genuß mußt du es auffassen, wenn dir vergönnt ist, deiner Natur gemäß zu leben. Und dies ist dir immer vergönnt. Nicht so den Dingen der unbeseelten Natur: der Walze ist es oft verwehrt, sich in der ihr natürlichen Weise zu bewegen und ebenso dem Wasser und dem Feuer usf. Denn hier sind mannigfache Hindernisse. Geist aber und Vernunft vermögen Kraft ihrer natürlichen Beschaffenheit und in Kraft ihres Willens alle Hindernisse zu überwinden. Drum gilt es, nichts so lebendig vor Augen zu haben, als diese Leichtigkeit, mit der die Vernunft sich durchzusetzen vermag, mit der sie sich, wie das Feuer nach oben, der Stein nach unten, die Walze um ihre Achse, durch alles hindurch bewegt. Was es auch für sie an Hindernissen gibt, das gehört entweder dem toten Leibe an, oder es kann sie, ohne Beihilfe des Gedankens und wenn sie nicht selbst die Erlaubnis dazu gibt, nicht verwunden, ihr überhaupt nichts Böses tun. Sonst müßte sie ja dadurch notwendig schlechter werden, wie man dies bei anderen Schöpfungen sieht, daß, wenn ihnen etwas Übles widerfährt, sie wirklich darunter leiden, d.h. dadurch schlechter werden. Beim Menschen aber muß man vielmehr sagen, wenn er den Hemmungen, auf die er stößt, richtig begegnet, wird er besser dadurch und preiswürdiger. — ­Überhaupt aber denke daran, daß dem eingesessenen Bürger nichts schadet, was dem Staate nichts schadet, und ebensowenig dem Staat, was dem Gesetz nichts schadet. Von dem, was man Unglücksfall nennt, schadet aber nichts dem Gesetz. Was also dem Gesetz nichts schadet, schadet weder dem Staat noch dem Bürger.

34

Für den, den wahre Philosophie erfüllt, reicht die Erinnerung an jene Verse hin:

“Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling. — ­ So der Menschen Geschlecht.” — ­

um Traurigkeit und Furcht ihm zu verscheuchen. Blätter sind auch deine Kindlein. Blätter alles, was so laut schreit, um sich Glauben zu verschaffen, was so hohes Lob zu spenden oder so zu verfluchen oder nur so insgeheim zu tadeln oder zu spotten liebt; Blätter auch, die deinen Ruhm verkünden sollen. Denn um die Frühlingszeit keimt alles hervor. Dann kommt der Herbstwind und wirft wieder alles zu Boden, damit anderes an seine Stelle trete. Kurze Lebensdauer ist der Charakter aller Dinge. Du aber fliehst und verfolgst alles, als sollte es ewig dauern. Über ein Kleines, und auch deine Augen schließen sich, und den, der dich bestattet, beweint bald ein anderer.

35

Ein gesundes Auge muß jeden Anblick ertragen können und darf nicht immer bloß Grünes sehen wollen. Ein gesundes Ohr, eine gesunde Nase ist auf jeden Schall und jeden Geruch gefaßt. Ein gesunder Magen verhält sich gegen jede Speise gleich, wie die Mühle eben alles mahlt, was zu mahlen geht. Ebenso nun muß auch eine gesunde Seele auf jedes Schicksal gefaßt sein. Wer aber spricht: meine Kinder müssen am Leben bleiben, oder: die Leute müssen stets billigen, was ich tue, dessen Seele gleicht dem Auge, welches das Grüne, oder den Zähnen, die nur Weiches haben wollen.

36

Niemand ist so glücklich, daß nicht einst an seinem Sterbelager einige stehen sollten, die diesen Fall willkommen heißen. Ist´s auch ein trefflicher und weiser Mensch, so findet sich am Ende doch immer jemand, der aufatmend von ihm sagt: nun werde ich von diesem Zuchtmeister erlöst; er war zwar keinem von uns lästig, aber ich hatte immer das Gefühl, als verdamme er uns stillschweigend alle miteinander! Und das ist beim Tode eines Trefflichen! Wie vieles mag unsereiner also an sich haben, um deswillen so mancher wünscht, von uns befreit zu werden. Daran denke in deiner Sterbestunde! Denke, du sollst eine Welt verlassen, aus der dich deine Genossen, aus der dich die, für die du so vieles ausgestanden, soviel gebetet und gesorgt hast, nun hinwegwünschen, indem sie aus deinem Scheiden so manche Hoffnung schöpfen. Was könnte dich also noch länger hier festhalten! Und doch darfst du deshalb mit nicht geringerem Wohlwollen von ihnen scheiden, sondern mußt um deiner selbst willen ihnen Freund bleiben und freundlich, sanft von ihnen Abschied nehmen, ebenso sanft, wie sich die Seele dessen vom Körper trennt, dem ein seliges Sterben beschieden ist. Denn die Natur hat dich auch so mit deinen Freunden verbunden. Und wenn sie dich jetzt von ihnen ablöst, so geschieht dies eben als von deinen Freunden, und nicht so, daß du von ihnen fortgerissen würdest, sondern sanft von ihnen scheidest. Es ist dies wenigstens auch eine von den Forderungen der Natur.

37

Bei allem, was von anderen geschieht, suche herauszubringen, welchen Zweck sie verfolgen. Aber fange damit bei dir selbst an, erforsche zuerst immer dich selbst!

38

Das, was dich bewegt, was dich mit unsichtbaren Fäden hierhin und dorthin zieht, das ist in deinem Innern. Hier schlummert das beredte Wort, hier wurzelt das Leben, hier ist der eigentliche Mensch. Nie schreibe diese Bedeutung dem Gefäße zu, das dieses dein Inneres umgibt, oder den Organen, die ihm angegliedert sind. Ohne bewegende Kraft sind sie nicht mehr, als ein Weberschiff ohne Weber, eine Feder ohne Schreiber, eine Peitsche ohne Wagenlenker.

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