Das ist ein Essay, das ich im Rahmen des Kurses "On Heraclitus" am College of Stoic Philosophers verfasst habe.
Komm in diese verräucherte Hütte; Gott ist auch hier: bekenne dich zu ihm. 1
Stell dir vor, du klopfst an Heraklits Tür, öffnest sie und stehst in einer verrauchten Hütte. Dann sagt Heraklit, der an seinem Ofen vor dem Feuer steht "Tritt ein, auch hier ist Gott anwesend!". Würdest du hineingehen? Für Heraklit ist das Göttliche überall anwesend. Wir können zwar dem bescheiden lebenden Heraklit aus dem Weg gehen, aber nicht dem Werk des für ihn Göttlichen. Wir können uns von dem Rauch in der Hütte abschrecken lassen, aber das ist diesem Göttlichen auch egal. Vielleicht müssen wir uns genau diesem Rauch und der Dunkelheit stellen, die sinnliche Wahrnehmung reduzieren und lernen, das Wesen der Dinge zu sehen. Nicht das Wesen der Dinge, wie wir sie gerne hätten, sondern wie sie wirklich sind.
Dazu möchte ich dich in diesem Essay einladen. Nach und nach möchte ich einige Rauchschwaden, die die Idee des logos des antiken "Rätselgenies" Heraklit verschleiern und nur schemenhaft darstellen, lüften, damit wir gemeinsam besser das Wesentliche erkennen.
Heraklit war ein vorsokratischer Philosoph, der um 500 v. Chr. in der griechischen Stadt Ephesus lebte. Er stammte aus einer aristokratischen Familie, lehnte aber die ihm zustehende politische Position ab, da er die Stadt für zu korrupt hielt. Charakteristisch für Heraklits Denken und Lehren war seine dunkle, rätselhafte Ausdrucksweise. Er wurde deshalb auch "der Riddler" genannt. Seine Lehre vermittelte er in Form von prägnanten Sprüchen und Aphorismen. Dabei kritisierte er scharf das mythologische Denken seiner Zeit sowie die Oberflächlichkeit der Menge. Heraklit zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück und lebte zeitweise als Einsiedler. Er soll seine Zeit damit verbracht haben, sich selbst zu erforschen und über die Natur der Dinge nachzudenken. Seine philosophische Methode war die der Selbsterforschung und direkten Naturbeobachtung statt der Übernahme überlieferter Meinungen. Sein Werk ist nur in Fragmenten überliefert, hatte aber großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der griechischen Philosophie. Besonders seine Ideen vom Logos und vom ständigen Wandel prägten das philosophische Denken nachhaltig.
Heraklit ist eine interpretatorische Herausforderung. Aus Sicht meines bisherigen Studiums seiner Fragmente und einiger Sekundärliteratur erscheint es mir so, als könne man keine belastbare Physik, bspw. Prozessphysik, oder Psychologie ableiten. Wie auch, wurden uns doch nur Fragmente seiner Paradoxa überliefert. Eine weitere Herausforderung: zur Zeit Heraklits war noch keine formelle Logik formuliert; diese wurde erst von seinen Vorgängern entwickelt. Doch wird die Idee des Logos die Formulierung einer formellen Logik maßgeblich beeinflusst haben, wenn man Logik als Gesetze des richtigen Denkens und Erkennens der Welt ansieht. Eine weitere Herausforderung ist, dass Heraklit in in einem sehr alten Griechisch geschrieben hat. Auch war sein Denken in Narrative und Mythologien eingebettet, die wir heute mehr schlecht als recht bzw. eher müßig nur nachvollziehen können. Heraklit setzt sich in seinen Fragmenten mit eben dieser griechischen Sprache sowie den Mythen und Gelehrten seiner Zeit auseinander. Wenn man des Altgriechischen mächtig ist, kann man noch mehr Freude an seinen Texten und an seinem Wortwitz haben2. Ich habe bei meinen eigenen Interpretationen versucht, auch das Griechische, soweit es mir möglich war, korrekt zu berücksichtigen, damit ich nicht unzulässigerweise Wörter vermenge, die man getrennt betrachten sollte. Alternativ referenziere ich auf bereits dokumentierte Interpretationen anderer Autoren. Viele Wörter können mehrere Bedeutungen haben sowie in einer aktiven, passiven oder medium-Form (gibt es in anderen Sprachen nicht) verstanden werden.
logos ist ein Wort mit großer Bedeutung in der antiken griechischen Philosophie. Die Wurzel des Wortes logos ist leg 3. Das Verb, auf dem logos basiert, ist légō (λέγω 4) und bedeutet so viel wie "(ab)legen", "sammeln", "lesen", "aufzählen", "erzählen". Im Englischen erkennt man ein griechisches Erbe im Wort collect 5 - (auf)sammeln. Bei Homer und Hesiod finden wir logos in der Bedeutung als "Wort", "Diskurs" oder "Erzählung (account)" 6. Den Bedeutungsschritt von "sammeln" zu "sprechen" kann man derart vollziehen, indem man Sprechen als ein "Aufsammeln von Worten" sieht 7. So wird Sprache ein "Vehikel für menschliche Vernunft" 5.
Heute haben wir, zumindest im Englischen und im Deutschen, jede Menge "logien" und "lektiken", deren Endung etymologisch von logos kommen: Biologie, Psychologie, Dialektik (Kunst des Argumentierens, also was mit Wörtern), Eklektik (Auswahl und Kombination von Elementen aus verschiedenen Stilrichtungen oder Theorien) oder aber auch den Lektor (das Wort hat seinen Ursprung im Lateinischen von legere (lectum) lesen).
Die Griechen betonen in der Antike bereits die Sprachbegabtheit des Menschen. "Der Begriff der Sprache erinnert daran, dass Sprache sowohl Voraussetzung als auch Folge des Vernunftgebrauchs, des Denkens ist." 8 Sprache beeinflusst das Denken und andersherum. Das Griechische allerdings kann an der Stelle etwas mehr. Es kann Beziehungen zwischen einzelnen Gliedern eines Satzes viel genauer angeben als andere europäische Sprachen. 9 Moderne Sprachen, bspw. das Englische, können die Vielfalt der Beziehungen nicht mehr so schön und einfach darstellen wie das Griechische. Damit fällt es uns auch schwerer, die Welt in ihrer Vielfalt und ihren Beziehungen zu durchdringen. Daher ist die Beschäftigung mit Heraklit (und dem Altgriechischem) so wertvoll, denn 100% klar übersetzbare Aussagen wird man bei ihm nicht finden. Es sind Fingerzeige, Koans, Riddles, Aphorismen und Paradoxa, die er uns überliefert.
Doch diese ermöglichen es uns, die Nebelschwaden der Welterkenntnis zu lüften, den logos und sein Wirken besser wahrzunehmen - man muss nur richtig hinhören.
Drum ist's Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon das Wort (logos) allen gemein ist, leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.
Fragment 2
Der Wort logos ist keine Erfindung von ihm. Wie oben dargestellt, hat es die Bedeutungen von "Wort" oder "Sprache" als Ausdruck des vernünftigen Denkens, um Ordnung in das zu bringen, was wir erfahren. Doch wenn wir in Heraklits Welt eintreten, eröffnet sich eine neue, unendliche Bedeutungstiefe des Wortes. Ein Bild von Heraklits logos erhält man erst, wenn man sich auf all die Facetten einlässt, die den logos beschreiben. Die Worte Heraklits sind, logischerweise, auch logoi. Allerdings als Wortansammlungen, die uns aufgrund seines intentionalen Ordnungsprinzips als Paradoxa oder Rätsel erscheinen. Dadurch ermöglichen uns seine logoi, den logos besser zu verstehen. Er fordert uns auf, unsere eigene private Begriffs- und Beziehungswelt zu verlassen und neu zu sehen. Dadurch können wir den uns allen gemeinsamen logos zusätzlich zu den ursprünglichen Bedeutungen als universales Ordnungsprinzip verstehen, als Gegensätze vereinende Kraft, durch die alles im Fluss ist, und sich auch als ewiges kreatives Feuer des Kosmos manifestiert.
Diese Bedeutungsebenen schauen wir uns jetzt an, bevor wir vertiefen, wie man den logos (besser) verstehen kann.
Für dies Wort aber, ob es gleich ewig ist,
gewinnen die Menschen kein Verständnis,
weder ehe sie es vernommen noch sobald sie es vernommen.
Alles geschieht nach diesem Wort, und doch gebärden sie sich
wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich's damit verhält.
Die anderen Menschen wissen freilich nicht,
was sie im Wachen tun, wie sie ja auch vergessen,
was sie im Schlafe tun.
Fragment 1
Das Fragment, was uns als das erste Fragment von Heraklit überliefert ist, beschreibt schon sehr viel von dem, was den logos ausmacht. "Alles geschieht nach diesem Wort" d.h., er ist ein universales Ordnungsprinzip. Nimmt man ein Fragment von Fragment 31 noch hinzu "Es (das Feuer) zerfließt als Meer und erhält sein Maß (metron) nach demselben Wort (logos) wie es galt, ehe denn es Erde ward.", so kann logos hier auch als "Maß" (metron, wie in Metronom) verstanden werden 10. Der logos fungiert als das Prinzip, das dem Universum Maß und Ordnung gibt. Es ist das Prinzip hinter den feinabgestimmten Naturgesetzen, die uns unser Leben ermöglichen.
Das urwichtigste Prinzip für Heraklit ist das Feuer.
"There's a fire in me. There's a fire in you"
Premiata Forneria Marconi - There's a fire in me
Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen (metron) erglimmend und nach Maßen erlöschend.
Fragment 30
Das Feuer begegnet uns bei Heraklit immer wieder. Es ist eher als philosophisches, metaphorisches denn als richtiges Feuer zu verstehen11. Für Heraklit ist das Urelement der Welt Feuer. Für andere Philosophen vor oder mit ihm war es Wasser oder Luft12. Der Kosmos wird, wie Fragment 30 zeigt, durch Feuer in die Existenz gebracht. Ein ewiges Feuer, das durch den Logos als Maß (metron) mal aufleuchtet und mal vergeht. Feuer flackert eben und sieht aus jeder Perspektive anders aus. Hier drückt sich auch wieder das Werden und Vergehen aus, das er wie ein Atmen beschreibt13. Metra ist die ordnende Kraft dahinter, wie oben schonmal erwähnt: "Es (das Feuer) zerfließt als Meer und erhält sein Maß (metron) nach demselben Wort (logos) wie es galt, ehe denn es Erde ward" (Frag 31) Alles in der Welt kommt und geht aus und in das Feuer: "Umsatz findet wechselweise statt des Alls gegen das Feuer und des Feuers gegen das All, wie des Goldes gegen Waren und der Waren gegen Gold." (Frag. 90) Das Feuer bringt wie in einem fairen, gerechten Tauschhandel, mit dem logos als Maß, die Dinge hervor und nimmt andere dafür entgegen. Feuer kann Wärme und Leben spenden, aber genauso auch zerstören. Das kosmische Atmen. Lebensnotwendiger Austausch. Werden und Vergehen.
Das Weltall aber steuert der Blitz.
Fragment 64
Der Blitz ist das Symbol des Zeus, sagt uns die griechische Mythologie 14, derer Heaklit natürlich vertraut ist. Der Blitz steht auch nach Hippolytos von Rom 15 für das ewige Feuer. Aber es wird noch interessanter. Richard Geldard schreibt "Those Greeks in the Orphic tradition who understood the relationship of the myth-symbol Zeus to human consciousness would have been able to draw the conclusion that human beings participated in this “steering” in the same measure as they took part in consciousness." 16 Hier wird zum einen die Auseinandersetzung Heraklits mit der Mythologie und Welterklärung seiner Zeit deutlich, die ihm wohl nicht mehr ausreicht, um die Welt zu erklären17. Das meint er auch im obigen Fragment 30, wenn er konstatiert, dass die Welt nicht durch Götter oder Menschen geschaffen wurde.
Doch anknüpfend an diese Mythologie haben wir einige Metaphern für das ewige Feuer Heraklits: den Blitz, Zeus sowie Bewusstsein. Damit lässt sich nun andeuten, dass das Bewusstsein den Kosmos steuert.
Habt ihr nicht mich, sondern mein Wort [Gesetz] vernommen, ist es weise (sophon) zuzugestehen, daß alles eins ist.
Fragment 50
"Alles ist Eins" meint Heraklit und möchte sogar, dass wir nicht ihm, sondern dem logos zuhören und dabei sollen erkennen wir genau diese Weisheit. Wie ist das zu verstehen?
Alles ist Eins. Alles, was am Geschehen im Kosmos teilnimmt, ist Teil dieses Kosmos und trägt zu seinem Sein bei: "Verbindungen (Paare) sind: Ganzes und Nichtganzes, Eintracht, Zwietracht, Einklang, Mißklang und aus allem eins und aus einem alles." (Frag. 10) Dieses Eine entsteht durch die konstante Veränderung von allem. Das ist die Einheit von Gegensätzen.
Doch dieses Sein, das erkennt Heraklit auch, ist ständigem Wandel ("flux") unterworfen. "Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Überfluß und Hunger. Er wandelt sich aber wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermengt wird, nach dem Duft, den ein jegliches ausströmt, benannt wird." (Frag. 67)
Sie verstehen nicht, wie es (das Eine) auseinander strebend ineinander geht: gegenstrebige Vereinigung wie beim Bogen und der Leier.
Fragment 51
Doch dieses ganze Zusammenspiel, dieser Krieg, diese Konflikte, diese gegensätzliche Kohärenz, ist ein harmonisches Zusammenspiel. Alles muss genauso zusammenspielen, sonst würde Alles auseinanderbrechen. Alles ist perfekt aufeinander abgestimmt, spielt in Harmonie wie ein Orchester. Die musikalische Metapher der Leier passt sehr gut, denn in der Musik geht es ja geradezu um die durch den logos gegebene Harmonie18.
"I'm just a Sound"
Premiata Forneria Marconi, I'm just a Sound
Aber dieses Zusammenspiel passiert eben auf kriegerische, leidende aber gerechte Art und Weise: "Man soll aber wissen, daß der Krieg das Gemeinsame ist und das Recht der Streit, und daß alles durch Streit und Notwendigkeit zum Leben kommt." (Frag. 80) Die Elemente setzen sich miteinander auseinander, es kann gar nicht anders funktionieren. Dieser Widerstreit ist die kosmische Gerechtigkeit. Das Gesetz des Kosmos ist eben derart durch den logos konstruiert. Daher sind für Gott auch alle Dinge fair, gut und richtig19.
Alles fließt, daher "Wer in dieselben Finten (Fluss) hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu. Auch die Seelen dünsten aus dem Feuchten hervor." (Frag. 12). Alles ist anders im nächsten Moment. Es sind andere Wassermoleküle, die auf andere Moleküle meines Körpers treffen, dessen Geist in einem anderen Zustand ist, als zuvor. Auch wenn es so aussieht, als würde sich nichts ändern, ist alles anders. Paradox zutreffend erkennt Heraklit auch, dass die Identität von Dingen durch den flux gegeben und zerstört wird: "In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht: wir sind es und sind es nicht." (81/49a). Ja, es ist derselbe Fluss, in Bezug auf Flussbett und Name, aber der Inhalt, auch wenn es immer Wasser ist, sind es doch andere Wassermoleküle. Genauso sind wir wir und dann wiederum nicht. Ein anderes Beispiel ist auch der Gerstentrank "EAuch der Gerstentrank zersetzt sich, wenn man ihn nicht umrührt.." (125) Die Inhaltsstoffe setzen sich ab, wenn man ihn nicht umrührt, und dann ist er nicht mehr der gewohnte Gerstentrank, obwohl er doch die gleichen Stoffe enthält.
Aus einer kosmischen Perspektive heraus sind Gegensätze, die dem Menschen so erscheinen, auch keine mehr "Der Weg auf und ab ist ein und derselbe." (60). So verhält es sich auch mit der kosmischen, göttlichen, "logischen" Gerechtigkeit "Bei Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber halten einiges für gerecht, anderes für ungerecht." (102) Aber genau das ist es doch, wozu es diese Dinge gibt, oder? "Gäb' es jenes (das Ungerechte) nicht, so kennten sie der Dike (Gerechtigkeit) Namen nicht." (23)
Und es ist immer ein und dasselbe, was in uns wohnt: Lebendes und Totes und das Wache und das Schlafende und Jung und Alt. Wenn es umschlägt, ist dieses jenes und jenes wiederum, wenn es umschlägt, dieses.
Fragment 88
Diese Einheit von sich im Wandel befindlichen Gegensätzen ist eine Ausprägung des ordnenden logos.
Wenn wir diese Ordnung nicht erkennen, dann weil wir nicht genau hinhören, die Harmonie nicht erkennen, weil wir zu sehr mit unseren privaten, Ansichten beschäftigt sind.
Heraklits Idee ist, dass es einen logos gibt, der sich als durch die Vernunft ausgesprochene Worte, aber auch als Gegensätze ordnendes Prinzip, oder kosmisches, ewiges Feuer ausdrückt. Der logos ist es, der alles mit allem in Beziehung setzt, Harmonie erschafft.
"Logos ist Natur und seine Sprache"20.
Aber wie kann man nun den logos erhören, erfahren oder erkennen?
Heraklit hat eine besondere Vorstellung von Weisheit bzw. von dem, was das Weise ist. In Frag. 41 erfahren wir, dass "In Einem besteht die Weisheit (en to sophon), die Vernunft (gnome) zu erkennen, als welche alles und jedes zu lenken weiß.". Dieses "Eine Weise" manifestiert sich als logos in allem, geht aber zugleich über jede einzelne Manifestation hinaus. Dies wird besonders deutlich in Fragment 32: "Eins, das allein Weise (en to sophon), will nicht und will doch auch wieder mit Zeus' Namen benannt werden.". Diese paradoxe Formulierung zeigt: Das Eine Weise braucht Namen und Manifestationen (ist "willing"), übersteigt sie aber zugleich (ist "unwilling"). Der logos ist die Manifestation des Einen Weisen in allem, aber das Eine Weise selbst bleibt transzendent.
Es geht ihm um eine besondere Weisheit, um ein besonderes Denken. Es wird in Fragment 78 deutlich, dass nur der göttliche Weg solche Einsichten ermöglicht: "Denn des Menschen Sinn (ethos) hat keine Einsichten (gnome), wohl aber der göttliche.". Hier geht es nicht um religiöse Gotteserkenntnis im traditionellen Sinn, sondern um einen philosophischen Erkenntnisweg, der über gewöhnliches Verstehen hinausführt. Wenn wir den "göttlichen Weg" gehen, suchen wir nicht den mythologischen Zeus, sondern das, was sich hinter dem Symbol Zeus verbirgt: Feuer, Bewusstsein, logos - das universelle Prinzip in allem.
Das Eine Weise wirkt IN allem als logos (Immanenz), ist aber zugleich VON allem getrennt (Transzendenz). Dies wird in Fragment 108 deutlich: "Keiner von allen, deren Worte (logoi) ich vernommen, gelangt dazu zu erkennen (ginoskein), daß die Weisheit (sophos) etwas von allem abgesondertes ist." (108). Diese Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz ist grundlegend für Heraklits Denken: Das Eine Weise durchdringt alles als logos, bleibt aber zugleich in seiner Wesenheit getrennt von allem.
Dieses Weise ist eine gnome, was auch Erkenntnis, Urteil oder Intention bedeuten kann21. Wenn wir richtig hinhören, nicht schlafen, sondern offen sind für Erkenntnis, das dualistische Denken aufgeben und uns der paradoxen Natur hingeben, so können wir die weisen Prinzipien erkennen, die der logos mit sich bringt, und durch die alles gelenkt wird. "Eins, das allein Weise". Alles ist Eins. Allein. All One. Alone.
Wie erfährt man, dass "Alles Eins ist"?
Für dies Wort (logos) aber, ob es gleich ewig ist,
gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie es vernommen noch sobald sie es vernommen.
Alles geschieht nach diesem Wort, und doch gebärden sie sich
wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich's damit verhält.
Die anderen Menschen wissen freilich nicht, was sie im Wachen tun, wie sie ja auch vergessen, was sie im Schlafe tun.
Fragment 1
Heraklit ist der Ansicht, dass wir kein Verständnis für den logos erlangen können, weder, bevor wir ihn erfahren haben, noch danach.
Besonders schlimm trifft es die Schlafenden: "Die anderen Menschen wissen freilich nicht, was sie im Wachen tun, wie sie ja auch vergessen, was sie im Schlafe tun." (1) und "... doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab an seine eigene (Welt)" (89). In ihrer privaten Welt (s. Fragment 2 weiter unten) lebend, erfahren die Schlafenden nie, was die Erwachten erfahren, denn "Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt" (89).
Lässt er sich also nur direkt erfahren? Wach, ohne in Erinnerungen oder Träumen zu schwelgen? Denn der logos wirkt immer und überall. Dinge Werden und Vergehen in dem Alleinen. Hier und Jetzt.
Was ist also zu "tun", um zu den Wachenden zu zählen? Wie kommen wir zu diesem richtigen Begreifen des logos? Einen Anfang können wir mit Fragment 116 unternehmen22:
Allen Menschen ist es gegeben, sich selbst zu erkennen und klug zu sein.
Fragment 116
Hier klingen die Inschriften vom Tempel des Apollo in Delphi an, den es aber zu Heraklits Zeit noch nicht gab: "Erkenne dich selbst" sowie "Nichts im Übermaß". Allen Menschen ist es gegeben, selbstkontrolliert zu sein und nichts im Übermaß zu tun. Holen wir Fragment 112 dazu
Das Denken (sophroneo) ist der größte Vorzug, und die Weisheit (sophos) besteht darin, die Wahrheit zu sagen und nach der Natur (kata physin) zu handeln, auf sie hinhörend.
Fragment 112
Sophroneo kann mehrere Bedeutungen haben, neben selbstkontrolliert auch besonnen, leidenschaftslos oder weise sein. Selbstkontrolle könnte dann so verstanden werden, dass man sich dazu anhalten soll, Heraklits Methode anzuwenden, "ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich's damit verhält." (Teil von 1) und alles Private und Egoistische außen vor zu lassen. Das ist die Arbeit des philo-sophos: "Gar vieler Dinge (historias) kundig müssen weisheitsliebende Männer (philosophos) sein." (35) Um die Weisheit des logos zu verstehen, muss man vieler Dinge kundig sein. Allerdings hebt Heraklit auch hervor, dass "Vielwisserei (polymathia) lehrt nicht Verstand (nous) haben." (40). Damit will er sagen, dass es zwei unterschiedliche Arten der Wissen gibt und die wichtigste die ist, die den Dingen auf den Grund geht, denn die Vielwisserei (Polymathie) führt nicht zu DEM Verständnis des logos, um das es Heraklit geht.
Der Polymath bringt es nicht zum einem tiefen Verständnis wie der "Polyhistor" - zusammengesetzt aus poly/viel und historias/Erkundung.
Der Polyhistor Heraklit weiß, dass Selbsterkenntnis allen Menschen möglich ist (116) und empfiehlt daher, an einem besonderen Ort zu suchen, um den logos zu verstehen. Das Problem ist "Die Natur liebt es sich zu verstecken." (123) - doch das lösen wir gleich auf.
Ich habe mich selbst gesucht.
Fragment 101
Heraklit sucht in seinem Selbst und findet, dass der Inhalt der Seele dem logos gleicht: "Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund (logos) hat sie." (45). Dadurch wird die Seele zu einem Spiegel des Kosmos23, in der Seele erkennt man die Reflexionen der verschiedenen Ausprägungen des logos. Er hat auch in sich erkannt, dass sich die Erkenntnisse mehren, je mehr man erkennt: "Der Seele ist das Wort (logos) eigen, das sich selbst mehrt." (115).
Um den logos zu begreifen, müssen wir aber auch aus der Privatheit heraus. Und das im mehrfachen Sinne: 1) wir müssen offen sein und nicht träumen, denn Träumen ist der "privateste und geistloseste Zustand"24. Wir müssen 2) erkennen, dass es ein gemeinsames Gesetz, einen logos gibt, der alle "privaten Weisheiten" egalisiert und 3) ist dieser logos nicht nur ein "privates Ding", sondern jeder hat diese logos-Qualität in seiner Seele, sodass wir dieses mit anderen Menschen gemeinsam haben, auch wenn es voreinaner verborgen ist. "Drum ist's Pflicht, dem Gemeinsamen (koinon) zu folgen. Aber obschon das Wort (logos) allen gemein ist, leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht (phronesis) hätten." Wir sollten also diesem Gemeinsamen folgen, denn auch der logos gehört zu dem Gemeinsamen.
Es ist genau das Denken und Begreifen, was Alles gemeinsam hat: "Gemeinsam (xynos, koinos) ist allen das Denken (phronein)." (113) . Deutlich wird er in 114, wenn er meint "Wenn man mit Verstand (nous) reden will, muß man sich wappnen mit diesem allen Gemeinsamen wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze aus dem einen göttlichen. Denn es gebietet, soweit es nur will, und genügt allem und siegt ob allem." Wer also vernünftig mit Worten ausdrücken möchte, was das Verständnis (nous) des logos betrifft, der solle sich noch fester an das Gemeinsame halten, als sich eine Stadt (polis) an das politisch gemeinsame Gesetz 25. Hier kommen noch weitere Dimension des Gemeinsamen zum Ausdruck: die menschliche Gemeinschaft bzw. die menschliche Natur. Aber auch all dieses Gemeinsame wird durch das göttliche Gesetz, sicherlich der logos, genährt.
Mit der Idee des Gemeinsamen versteht man auch, was den Wachen vom Schlafenden unterscheidet: "Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab an seine eigene." (89) und damit schließt sich auch der Kreis, den ich im Abschnitt über die "Einsicht in das Weise" geöffnet habe: wenn wir dieses Gemeinsame erkennen, schlafen wir nicht mehr.
Wir können nun die Tiefe besser erkennen.
Der logos Heraklits ist etwas, das alles mit allem in Beziehung setzt - innerlich und äußerlich. Den Kosmos bildend, durch das Feuer, bringt der logos die Einzelteile in Form (informiert sie) und wirkt in diesen durch bestimmte Gesetze weiter. Dadurch wird er zu einer Art Superlogos26.
So beim Menschen: der logos hat uns in diese Welt gebracht. Dadurch gibt es ein Außen. Gleichzeitig hat er uns ein "Innen" gegeben, indem wir ihn und seine Gesetze wahrnehmen können. Auf der einen Seite gehen wir aus ihm hervor und auf der anderen Seite verschmelzen wir mit ihm, sodass man meinen könnte, wir bringen uns selbst hervor. Wie das Feuer.
Wie muss die Seele bei Heraklit beschaffen sein, damit solche Erkenntnisse möglich sind?
Trockner Glanz: weiseste und beste Seele
Fragment 118
Allerdings haben Betrunkene eine nasse Seele: "Hat sich ein Mann betrunken, wird er von einem unerwachsenen Knaben geführt. Er taumelt und merkt nicht, wohin er geht; denn seine Seele ist feucht." (117). Für eine Seele ist es aber der Tod, nass zu sein: "Für die Seelen ist es Tod zu Wasser zu werden, für das Wasser Tod zur Erde zu werden. Aus der Erde wird Wasser, aus Wasser Seele." (36) Aber es ist der normale Kreislauf der Transformation einer Seele in Heraklits Welt. Allerdings hat die Seele auch ihre Freude daran (sich zu berauschen): "Für die Seelen ist es Lust (terpsis) oder Tod (thanatos) naß (hygros) zu werden." (77). Die Seele kann also nass werden und dadurch unempfänglich für die Erkenntnis des logos werden (117), wenn sie sich den falschen Freuden hingibt.
Da auch immer wieder "Wasser nachfließt" ("Wer in dieselben Finten hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu. Auch die Seelen dünsten aus dem Feuchten hervor." (12)), stehen wir als Menschen vor einer besonderen Herausforderung: wir stehen in diesem Wandel, der uns beeinträchtigt, den logos wahrzunehmen, aber gleichzeitig eine Ausprägung des logos ist. Herrlich paradox. Wie halten wir unsere Seele nun trocken? Das ist die beständige Arbeit des Philosophen. Beständig deswegen, weil selbst wenn wir den logos bemerken, wir schon wieder raus sind aus der Erkenntnis ("weder ehe sie es vernommen noch sobald sie es vernommen." (Teil von 1).
Diese beständige Arbeit beeinflusst den Charakter des Menschen.
Dem Menschen ist seine Eigenart (ethos) sein Dämon (daimon).
Fragment 119
Dies ist ein schwieriges Fragment. Es heißt "Ethos ist Daimon für einen Menschen". daimon kann für Gott, Göttlichkeit, die Kraft des Schicksals oder auch spirituelles Wesen (des Menschen) bedeuten. In Fragment 79 taucht der daimon nochmal auf: "Kindisch heißt der Mann der Gottheit (daimon) wie der Knabe dem Manne.." ethos ist auch bedeutungsschwer. Es kann Wesen, Eigenart, Charakter oder Gewohnheit. (siehe Fragment 78 "Denn des Menschen Sinn (ethos) hat keine Einsichten (gnome), wohl aber der göttliche.").
Was haben wir dann mit Fragment 119 vor uns: Das Wesen/Charakter/Gewohnheit des Menschen ist sein/e Schicksal/Göttlichkeit/geistiges Wesen.
"Let your Actions be your Prayer"
Premiata Forneria Marconi, A Day We Share
Diesen Essay habe ich mit einer Story eingeleitet, dass du vor Heraklits Tür stehst, anklopfst und er antwortet "Tritt ein, auch hier ist Gott anwesend!". Er wusste, dass sich keiner vor Gott und dem logos verstecken kann, denn das "göttliche Gesetz" (aus 114) wirkt immer und in allem. Man muss nur hineintreten oder kann draußen bleiben; und man kann erkennen, dass man schon drin ist, auch wenn man meint, man wäre es nicht.
da capo al fine (aus der Musik, die Anweisung, dass das Musikstück ab dieser Stelle vom Anfang zu beginnen ist)
Zwischendrin habe ich einige Songtitel oder Songzitate der italienischen ProgRock-Band "Premiata Forneria Marconi" eingefügt. Was haben sie mit Heraklit zu tun: vermutlich nichts. Ich habe während des Studiums und Schreibens ihre Alben gehört und zwischendrin sind mir einige interessante logoi aufgefallen, die irgendwie Heraklits Ideen wiedergeben.
Den Text habe ich auf Basis der englischen Fragmente (s. Quellen) geschrieben. Ich habe wichtige oder interessante griechische Wörter in Klammern eingesetzt, die eventuell für das Verständnis wichtig sein können.
Ich könnte ewig über Heraklits Fragmente schreiben, aber man muss ja mal fertig werden.
nach R. W. Emerson, Works, Harvard University Press, Cambridge, 1901, vol. x, p. 97: "We should say with Heraclitus: ‘Come into this smoky cabin; God is here also: approve yourself to him.’" ↩
Beispiel Brann, S. 129 ↩
Richard Geldard, S. 33 ↩
https://lsj.gr/wiki/%CE%BB%CE%AD%CE%B3%CF%89 + https://de.wikipedia.org/wiki/Lego - „leg godt“, dänisch für „spiel gut“ ↩
Mitevski, S. 2 ↩
https://www.etymonline.com/word/Logos ↩
Adam, S. 14ff. ↩
https://www.graecum.org/ein-plaedoyer/ ↩
Geldard, S. 34 ↩
Brann, S. 62f ↩
https://en.wikipedia.org/wiki/Classical_element ↩
Geldard, S. 45 ↩
Geldard, S. 47 ↩
Hippolytos D64, nach Brann, S. 65 ↩
Geldard, S. 46ff ↩
Geldard, S. 27 ↩
Brann, S. 31ff ↩
Fragment 102 ↩
Brann, S. 125 ↩
Brann, S. 20 ↩
Hier folge ich Argumentationen von Brann, S. 26ff ↩
Brann, S. 127 ↩
Brann, S. 131 ↩
mehr s. Geldard, S. 75 & Brann, S. 130 ↩
Brann, S. 124 ↩
zum Teil nach Brann S. 132 ↩