Meine aktuellste Sicht auf die Dichotomie findest du hier: Was es mit der Dichotomie der Kontrolle wirklich auf sich hat
Was hat es mit der Dichotomie der Kontrolle auf sich? Was können wir kontrollieren und was nicht?
Die Elemente der Philosophie der Stoa ergeben nicht immer Sinn, wenn man seine persönliche Bedeutung von Wörtern verwendet. Man denke da nur an Macht & Kontrolle, “im Einklang mit der Natur”, Pflicht oder Rolle. Ganz zu schweigen von den Tugenden…
Es macht viel mehr Sinn zu schauen, wie die Wörter damals zu verstehen waren – und dafür muss man sich genauer mit den Ideen der Stoikern auseinandersetzen. Sei die Stoa noch so praxisorientiert, so ist es diese Mühe, diese Investition in die Theorie, die auch für die Praxis notwendig ist.
Sonst bleibt es eine Mischung aus Kalendersprüchen und Zitaten, die man schnell falsch verstehen und in keinen sinnvollen Zusammenhang bringen kann.
τῶν ὄντων τὰ μέν ἐστιν ἐφ᾽ ἡμῖν, τὰ δὲ οὐκ ἐφ᾽ ἡμῖν.
ἐφ᾽ ἡμῖν μὲν ὑπόληψις, ὁρμή, ὄρεξις, ἔκκλισις
Quelle: Perseus Digital Library
In der Historie haben sich viele an die Übersetzung von Epiktets Handbüchlein der Moral. dem Ench(e)iridion, gemacht. Und manchmal möchte ich auch nicht ausschließen, dass es Übersetzungen von Griechisch über Englisch ins Deutsche gab, gibt und geben wird.
Einige Dinge stehen in unserer Macht, andere hingegen nicht. In unserer Macht sind Urteil, Bestrebung, Begier und Abneigung, mit einem Wort alles das, was Produkt unseres Willens ist.
aus https://www.projekt-gutenberg.org/epiktet/moral/moral.htmlÜber das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht;
aus https://www.projekt-gutenberg.org/epiktet/moral/chap002.htmlDas eine steht in unserer Macht, das andere nicht. In unserer Macht stehen: Annehmen und Auffassen, Handelnwollen, Begehren und Ablehnen – alles, was wir selbst in Gang setzen und zu verantworten haben.
aus Massimo Pigliucci – Die Weisheit der Stoiker
Es gibt keine Wörter, die sich direkt mit “Macht oder Kontrolle” übersetzen lassen. Die koine (altgriechische) Phrase “ἐφ᾽ ἡμῖν” (eph’ hêmin) im ersten Teil des zweiten Satzes sorgt hier für Verwirrung. Im Englischen wird es mit “[it’s] on us” übersetzt 1 – was man im Deutschen als “[Einige Dinge] liegen an/bei uns” übersetzen kann.
Es wäre dann mehr als ein “Verantwortungsbereich” oder “Zuständigkeitsbereich” zu verstehen.
William Irvine hat in seinem Buch “A Guide to the Good Life” die Trichotomie der Kontrolle “eingeführt”.
Neben den Dingen, die in meiner Macht stehen und den Dingen, die nicht in meiner Macht stehen, gibt es noch die Dinge, auf die ich Einfluss habe.
Als Neuling in der Stoa machte das für mich auch durchaus Sinn, denn ich will ja auch Ergebnisse in der Außenwelt erzielen, wenn ich mich schon den Strapazen der Tugend unterwerfe…
Aber im Nachhinein: waren Epiktet und die ihm nachfolgenden Stoiker und Philosophen so blind, dass sie diesen Einflussbereich nicht gesehen haben?
Sind wir heute so intelligent, ihnen das vorwerfen zu dürfen?
Was wäre, wenn diese Zeilen aus dem Handbüchlein vielleicht einen Koan-Charakter haben könnten (Danke an Dirk (R.I.P.) für diese Perspektive)?
Worauf möchte Epiktet (bzw. Arrian, der das Handbüchlein und die Unterredungen zusammengetragen hat) hinaus?
Worauf zeigt der metaphorische Finger in Epiktets Koan zu “was in unserem Verantwortungsbereich” liegt?
Einen sehr guten Hinweis bekommen wir in den Unterredungen Buch 1.1.7:
Wie es also billig war, so haben die Götter das Größte unter Allem, das, was über alles Herrschergewalt hat – die gehörige Anwendung unserer Vorstellungen – in unsere Gewalt gebracht.
Es geht hier also nicht um eine Einteilung meines Einflusses in der Welt in “Kontrolle, Einfluss, außerhalb der Kontrolle”. Das heißt nicht, dass diese Unterteilung falsch sei – aber mit dieser Eintelung wäre das Thema verfehlt.
Was Epiktet sagen will: Konzentriere dich auf die Anwendung der Fähigkeiten deiner Seele (die gehörige Anwendung unserer Vorstellungen).
Im Handbüchlein 1.1:
Was in unserer Macht ist, ist seiner Natur gemäß frei…
Denn in diesen Dingen findet man nach Epiktet die Freiheit.
In Selbstbetrachtungen 9.7 schreibt er:
Ἐξαλεῖψαι φαντασίαν: στῆσαι ὁρμήν: σβέσαι ὄρεξιν: ἐφ̓ ἑαυτῷ ἔχειν τὸ ἡγεμονικόν.
– aus Perseus Digital LibrayUnterdrücke die bloße Einbildung (phantasia); hemme die Leidenschaft (horme); dämpfe die Begierde (orexis); erhalte die königliche Vernunft (hegemonikon) bei der Herrschaft über sich selbst!
aus Projekt Gutenberg
Auch ein sehr schönes Beispiel, wie Übersetzungen Fehlinterpretationen anrichten können…
Oft lese ich den Hinweis, dass man ja auch nicht alles in sich kontrollieren könne.
Ja, merke ich selbst. Aber deswegen ist das ganze Konzept der Kontrolle ja nicht hinfällig.
Vielleicht ist es ein Ideal. Ideale sind per se nicht erreichbar, aber man kann sich auf sie zu bewegen.
Aber oft reicht es ja schon zu erkennen, DASS ich überhaupt Einfluss auf meinen inneren Dialog, auf das Framing und auf die Bedeutungsgebung der Dinge habe. Aber das ist ein Prozess. Keine Ahnung, wo das “Spektrum der Kontrolle” aufhört.
1: https://mountainstoic.com/2015/10/21/on-the-stoic-dichotomoy-or-is-it-trichotomy/