Die stoische Physik, mit all ihren Teilen, wie bspw. die Kosmologie und Theologie, findet in der populären stoischen Literatur eher einen stiefkindlichen Platz.

Mit diesem Artikel möchte ich zuallererst nach bestem Wissen darstellen, wie die Theologie, die Lehre von Gott/den Göttern, der Stoiker aussah und welche Bedeutung diese Lehre für die Ethik hat. Denn erst wenn wir wissen, wie verankert die Ethik in der Physik und vor allem der Theologie ist, können wir uns auch darüber unterhalten, wie der Stoizismus säkulärer werden kann, ohne die Begründung wichtiger Elemente und damit die Elemente selbst zu verlieren (bspw. die Vorsehung).

Es geht mir nicht darum, irgendwen zu "bekehren", sondern vielmehr darum, Verständnis dafür zu entwickeln, welche Aspekte oder Eigenschaften der Welt die Stoiker mit ihrem Gott identifizierten.

Vorab noch eines: stört euch nicht an dem Wort Gott. Die Stoiker füllen das Wort mit einer anderen Bedeutung. Synonyme könnte man die Worte Natur oder Kosmos verwenden.

Fahrplan

Durch die Theologie der Stoiker sollen uns 4 Fragen (nach Cicero1) sowie die Schlussfolgerungen daraus leiten:

  1. Gibt es Gott?
  2. Von welcher Natur ist er?
  3. Inwiefern führt er die Geschehnisse in der Welt und
  4. inwiefern kümmert er sich um die Welt und seine Geschöpfe?
  5. Was bedeutet das für die Ethik der Stoiker?

In den folgenden Absätzen wird deutlich werden, dass die Stoiker die Beweise für ihren Gott und für seine Eigenschaften oft kombiniert haben 2.

Gibt es Gott?

Der stoische Gott ist ein philosophischer Gott3. Er wird durch Vernunft erkannt und bedarf keiner Offenbarung durch Menschen - was nicht bedeutet, dass es Menschen gibt, die einem zeigen, wie der stoische Gott wirkt.

In der Antike gab es mehrere Beweise für die Existenz des stoischen Gottes. Einige Beweise klingen heute möglicherweise nicht mehr plausibel; dennoch erwähne ich sie hier, da sie zur Theorie der Stoiker dazugehören. Einige Beweise finden wir bei Sextus Empiricus sowie bei Cicero.

Bei Sextus4 erfahren wir etwas darüber, wie Zenon die Existenz einer Gottheit beweist sowie ein Angriff und Rettung des Arguments.

Zenons Syllogismus

Der Syllogismus lautet wie folgt:

Die Götter kann man vernünftigerweise ehren.
Was nicht existiert, kann man nicht vernünftigerweise ehren.
Deshalb existieren die Götter.

Überliefert ist uns auch der Angriff des Arguments durch Alexinus. Er setzt statt Gott einfach den stoischen Weisen in den Syllogismus ein:

Den Weisen kann man vernünftigerweise ehren.
Was nicht existiert, kann man nicht vernünftigerweise ehren.
Deshalb existiert der Weise.

Aber die Schlussfolgerung ist falsch, da der Weise noch nicht gefunden wurde - damit wäre die Argumentation ad absurdum geführt.

Doch die Rettung kommt von Diogenes v. Babylon. Er meint, Zenons 2. Prämisse sei so zu verstehen: "Wessen Natur es ist, nicht zu existieren, den könnte man aber nicht vernünftigerweise ehren." Die Tatsache, dass bis jetzt noch kein Weiser gefunden wurde, bedeutet nicht, dass nie einer existieren kann.

Long/Sedley unterstellen diesem Beweis "mehr Flair als philosophische Disziplin". 5

Beweis durch den Vorbegriff

Die folgenden Beweise sind bei Cicero in "De natura deorum, 2.12" nachzulesen. Es spricht Balbus, ein Vertreter der Stoiker.

... denn allen ist es angeboren und ihrem Geist gleichsam eingemeißelt, dass es Götter gibt. Über ihre Beschaffenheit gehen die Meinungen auseinander, aber dass sie existieren, bestreitet niemand.

Das Argument ist, da Menschen nunmal von Geburt an fähig sind, so etwas Höheres (Götter) überhaupt begreifen zu können, gibt es sie auch (prolepsis / Vorbegriff).

Beweis durch Fürsorglichkeit & Wohlwollen

Der zweite Begriff war der, den wir aus der Größe der Vorteile gewonnen haben, die uns durch das gemäßigte Klima, durch die Fruchtbarkeit der Erde und durch eine große Menge anderer Annehmlichkeiten geboten werden.

Da die Welt so fürsorglich eingerichtet ist, kann man auf die Existenz eines wohlwollenden Schöpfers schließen.

Beweis durch unerklärliche Phänomene

An dritter Stelle steht der Schrecken, in den die Menschen versetzt wurden durch Blitze, Stürme, … Durch diese Dinge zutiefst erschreckt vermuteten die Menschen die Existenz einer göttlichen Himmelsmacht.

Eine göttliche Himmelsmacht als Erklärung für (damals) unerklärliche Phänomene.

Beweis durch die Ordnung der Welt

Die vierte und wichtigste Ursache war das Gleichmaß der Bewegung, die Umdrehung des Himmels, die Individualität, Nützlichkeit, Schönheit und Ordnung der Sonne, des Monds und aller Sterne. All dies nur zu sehen beweise schon hinlänglich, dass es kein Produkt des Zufalls ist. [..][er/man] muss notwendigerweise schließen, dass es ein Geist sein muss, der so eindrucksvolle Bewegungen der Natur lenkt.

Die Beschaffenheit und Ordnung der Welt weist auf eine höhere Macht hin. (Naturgesetze)

Dass die Welt durch Zufall so entstanden ist, wie sie entstanden ist, steht für die Stoiker nicht zur Debatte (anders bei Epikur). Es muss eine gewisse Ordnung dahinter stecken.

Beweis durch Vorhersagbarkeit (Weissagung)

Auch wurde argumentiert, dass man eben auch Ereignisse auf Basis der Ordnung der Welt vorhersagen kann, was ein Beweis auch für die Vernunft im Universum sei.

Beweis durch inakzeptable Konsequenzen bei der Leugnung Gottes

Darüber hinaus argumentierte man auch, dass die Annahme, es gebe keinen Gott, inakzeptable Konsequenzen nach sich zieht.

So zum Beispiel folgende Konsequenz: Die Natur zeigt uns, dass es Lebewesen gibt, die besser als andere sind. Da Menschen unperfekt, verletzlich, sterblich oder irrational sind, muss es etwas geben, das besser ist.

Ohne Gott fehlt "das Perfekte/Bessere/Stärkere/Vollkommenere".

Beweis durch ontologische Hierarchie

Der Beweis ist auch als "ex gradibus entium" bekannt, da er auf der Idee basiert, dass es solche ontologischen Hierarchien (vgl. scala naturae) des Guten, Starken und Vollkommenen geben muss.

Das sind nun einige der antiken stoischen Beweise dafür, dass es eine Gottheit, Gott oder Götter gibt.

Exkurs: Gott oder Götter?

Die Stoiker, besonders Epiktet, scheinen mal von Gott, Zeus oder gar Göttern zu sprechen. Das führt gerne zu Missverständnissen, in welchen -ismus (Deismus, Theismus, Monotheismus, Polytheismus, Pantheismus, Panentheismus) sich die Stoiker einordnen lassen.

Zum einen kannten die Stoiker diese Kategorien nicht (Anachronismus).

Aus Diogenes Laertios 7.147 könnte man schließen, dass sie die Ansprache des Gotts, oft Zeus, an verschiedene Wirkräume angepasst haben:

Er hat viele seinen Potenzen entsprechende Appellativa. Dia (Zeus) heißt er, weil durch ihn alles ist; Zena (Zeus), sofern er Urheber des Lebens ist oder das Leben durchdringt; Athena heißt er, weil er seine Herrschaft bis zum Äther erstreckt; Hera als Beherrscher des Luftreichs und Hephaistos nach dem schöpferischen Feuer; Poseidon nach der Meeresherrschaft und Demeter wegen seiner Erdoberhoheit. Ebenso sind ihm die übrigen Appellativa aufgrund bestimmter Affinitäten gegeben.

Bei Forschner6 findet sich auch der Hinweis, dass die Stoiker einen kosmischen Gott haben (Zeus) und alle anderen Bezeichnungen als "Kräfte, Funktionen bzw. Manifestationen und herausgehobene 'Expressionen' des einen kosmischen Gottes 'neutralisiert' wurden".

Bei Long/Sedley "Die hellenistischen Philosphen" habe ich außerdem gelesen, dass die Griechen es mit dem Singular und dem Plural nicht so genau nahmen.

Von welcher Natur ist er?

Das aktive Prinzip

Sie lehren, das Universum habe zwei Prinzipien, das Aktive und das Passive. Das Passive sei die qualitätslose Substanz, die Materie; das Aktive sei die darin vorhandene Vernunft (logos), die Gottheit.
Sie sei ewig und bringe jede Gestalt der Materie hervor. (DL 7.134)

Die Materie wird durch das aktive Prinzip (Gott, logos, pneuma) von innen heraus geformt. Auch wenn die Stoiker gerne als Materialisten bezeichnet werden, so passe laut A.A. Long eher die Bezeichnung "Vitalisten". Die Materie hat ja eine ihr innewohnende Vernunft. Forschner 7 spricht von einer Art rationalem Animismus.

Der stoische Gott bringt die passive Materie in Form und verleiht ihr dadurch eine gewisse Vernunft (logos). Die Vernunft ist graduell in den Dingen vorhanden. Das ist die scala naturae.

Der Kosmos / die Natur

Als Substanz Gottes bezeichnet Zenon den ganzen Kosmos und den Himmel, und ebenso Chrysipp und Poseidonius. [..] Unter Natur verstehen sie entweder das, was den Kosmos zusammenhält oder was die Dinge auf der Erde hervorbringt. Natur ist das aus sich selbst bewegte Vermögen, das durch die produktiven Vernunftkräfte das aus ihr Hervorgehende für bestimmte Zeiten vollendet, zusammenhält und jenem gleichmacht, aus dem es hervorgegangen ist. (DL 7.148)

Aus dieser Darstellung können zwei wertvolle Synonyme für den stoischen Gott entdecken: Natur und Kosmos.

Ein Lebwesen

Diogenes Laertios (7.147) überliefert eine schöne, knappe Zusammenfassung dessen, wie Zenon von Kition die Natur des stoischen Gottes beschreibt:

Gott sei ein unsterbliches, vernünftiges Lebewesen, sei vollkommen als Geistwesen in seiner Eudämonie, unberührt von allem Schlechten, voller Fürsorge für die Welt und ihre Geschöpfe.
Er habe aber keine Menschengestalt, sei Baumeister des Universums und gleichsam Vater aller Dinge, insofern er im ganzen und auch mit seinen Teilen alles durchdringt. (DL 7.147)

Gott ist ein unsterbliches, vernünftiges Lebewesen, von geistiger Natur, "glücklich", gut, fürsorglich, von nicht-menschlicher Gestalt, der Schöpfer und durchdringt alles.

Auf das Thema "Kosmos als Lebewesen" werde ich in einem anderen Artikel eingehen.

Zusammenfassend: Die Natur Gottes und Verbundenheit mit Menschheit

Die Identifikation Gottes mit dem Kosmos sowie seinen Eigenschaften ist für die stoische Theologie zentral: "Der Kosmos [ist] belebt, höchst rational, weise, vollkommen und so gesehen Gott." 8

"Die Welt hat ein leitendes Organ, einen Geist, der Gott ist, der als logos spermatikos 'demiurgisch' wirkt und mit den uns aus ihm hervorgehenden logoi spermatikoi aller Lebewesen, insbesondere denen der Menschen materiell verbunden ist." 9

Inwiefern führt er die Geschehnisse in der Welt?

Hier geht es darum zu zeigen, dass die Welt, so wie sie ist, auch so "vorgesehen" ist - also um die Idee der Vorsehung, providence (engl.), providentia (lat.) oder pronoia (griech.).

Kern der Idee ist, dass der kausale Determinismus - jedes Ereignis ist durch vorhergehende Ereignisse bedingt - eine göttliche Ursache oder Absicht hat. 10

Wenn also die Frage aufkommt, warum der Kosmos so ist, wie er ist, dann war für die Stoiker die Antwort hinter all der Ordnung, dass es einen Gott gibt. Jedenfalls geben sie dieser, den Kosmos prägenden Kraft, diesen Namen.

Das Bild, dass da ein jemand sitzt und die Welt zusammebaut, ist bei den Stoikern nicht angebracht.

Es stellt sich die Frage, ob der Kosmos durch Zufall oder aus Notwendigkeit entstanden oder ein Werk der Vernunft ist. Wenn man sich die Vorhersagbarkeit durch Naturgesetze anschaut, so sind eben genau diese Gesetze/Prinzipien eine Ausdruck der (göttlichen) Vernunft, da sie den Lebewesen auf der Erde eine Existenz ermöglichen.

Doch diese Existenz ist nicht bedingungslos. Der Rahmen, in dem die Naturgesetze zusammenwirken, um Leben zu spenden, ist, wie wir heute wissen, recht begrenzt.

Dennoch steht oft am Ende die Frage im Raum, wenn doch alles so fürsorglich für uns eingerichtet sei, wieso gibt es dann dennoch so viel Übel auf der Welt?

Inwiefern kümmert er sich um die Welt und seine Geschöpfe?

Bis jetzt haben wir erfahren, was Gott bzw. der Kosmos ist und dass er fürsorglich eingerichtet sei. Das scheint im Widerspruch zum dem Leid zu stehen, das wir tagtäglich erfahren.

Für diese Betrachtung ist es sinnvoll, zwischen moralischem Übel und kosmischem Übel zu unterscheiden:

"Nach der stoischen Theorie ist das moralische Übel auf den Menschen selbst zurückzuführen. Es geht darum, dass die Menschen irrationale Entscheidungen treffen und falschen Behauptungen zustimmen."11

Aus Sicht der Stoiker, besonders Epiktet, ist es unsere Aufgabe, genau dieses moralische Übel zu überwinden. Falsche Behauptungen oder Annahmen über die Welt, Situationen oder von Menschen führen zu falschen Urteilen und irrationalen Entscheidungen. Eine vollkommene Handlung ist demnach nicht möglich.

Zum Thema der kosmischen Übel finden wir bei Aulus Gellius 12 sowie bei Plutarch 13 Hinweise dazu, wie Chrysippus dazu gedacht hat:

  1. Gut und Böse als Gegenteile bedingen sich gegenseitig; epistemisch, da wir das eine nicht ohne das andere wahrnehmen können und ontologisch, da Gute nicht ohne das Böse existieren kann.
  2. das gute und zielgerichtete Wirken der Vorsehung kann nicht gleichzeitig alle gut behandeln, sonder verursacht "Kollateralschäden"
  3. Übel passieren ausversehen, wie bspw. ausversehen Mehl verschüttet wird; oder sind auf einen "bösen Dämon" (böse Seele) zurückzuführen
  4. Manche Übel enthalten auf den zweiten Blick möglicherweise Vorteile: Kriege können Überbevölkerung reduzieren; auf kleiner Ebene helfen Mäuse uns dabei, sauberer zu sein.

Es ist müßig, über die Beispiele zu diskutieren, denn am Ende steht fest, dass die Stoiker dem Gott ein zu einem gewissen Grad unvollkommenes Wirken unterstellen, da der Rahmen, die rationalen Regeln, die Gesetze ihn dazu "zwingen".

Nicht alle Orte und Naturgeschehnisse auf der Welt sind für unser Leben zuträglich, aber womöglich sind sie alle notwendig, um unser Leben hier zuträglich zu machen. Denn am Ende wirken die Naturkräfte ja in einem sensiblen System.

Die gestaltende Kraft des stoischen Gottes sorgt dafür, dass es ein Ziel, eine Absicht sowie eine Ordnung des Guten gibt - als das rationale Prinzip oder als physikalische Kraft verstanden, können Gut und Böse nicht unabhängig voneinander existieren und Dinge können nicht ohne "Abfall" geschaffen werden.

Vielleicht kann man am Ende sagen, dass der stoische Gott bei der Erschaffung des Kosmos ein höheres Ziel hat, was wir nicht verstehen, doch an dem wir teilhaben.

Auf den Punkt gebracht und frei nach Shakespeare:

Nichts auf der Welt ist weder gut noch schlecht; erst der Mensch macht es dazu.

Wie kommuniziert man mit dem Kosmos/Gott?

Das ist im Prinzip die Frage danach, wie es mit dem Thema Beten und Weissagung/Wahrsagung aussieht.

Auf das Thema Beten gehe ich weiter unten ein.

Das Thema Weissagung (Mantik) enthält bei den alten Stoiker eine abergläubische Konnotation. Dazu bei Cicero "Über die Weissaung" 1.11814

Denn die Stoiker geben nicht zu, daß bei jeder Spaltung der Leber oder bei jeder Stimme der Vögel ein Gott zugegen sei; denn das ist nicht geziemend und der Götter würdig und kann auf keine Weise möglich sein; sondern so sei die Welt von Anbeginn eingerichtet, daß gewissen Dingen gewisse Zeichen vorausgingen, einige in den Eingeweiden, andere in den Vögeln, andere in den Blitzen, andere bei Wunderzeichen, andere bei den Gestirnen, andere bei den Erscheinungen der Träumenden, andere in den Worten der Rasenden. Wer diese Dinge richtig aufgefaßt hat, täuscht sich nicht oft. Was ungeschickt gemutmaßt und ungeschickt ausgelegt ist, das ist nicht durch die Schuld der Dinge, sondern durch die Unwissenheit der Erklärer falsch.

Doch die abergläubische Konnotation entsteht, denke ich, daher, dass wir heute keine Wahrsagerei mehr mit Eingeweiden machen. Die Wissenschaft hat den Platz der Weissagung eingenommen, da sie auf Basis der eingerichteten Gesetze zu bestimmten Teilen Voraussagen über die Welt treffen kann, bspw. beim Wetter. Wenn das Ergebnis dann nicht mit der Erwartung übereinstimmt, wissen wir an einer Stelle noch nicht genug und/oder haben einen Fehler gemacht.

Die Stoiker wollen Weissagung wissenschaftlich verstehen. (Cicero, Von der Weissaung, 2.130)15

Chrysippos wenigstens definiert die Weissagung mit folgenden Worten: Sie sei eine Kraft, die die von den Göttern den Menschen gegebenen Zeichen erkenne, einsehe und erkläre, ihr Geschäft aber sei es, vorher zu erkennen, wie die Götter gegen die Menschen gesinnt seien, was sie anzeigen und wie dies abgewandt und gesühnt werden müsse.

Da der stoische Gott nicht ins Weltgeschehen eingreift, sondern es rational, nachvollziehbar eingerichtet habe (Naturgesetze), ist das möglich.

Warum geht am Ende die Welt wieder in Flammen auf?

Wie kann ein immanenter und providentieller Gott für die Zerstörung des Kosmos verantwortlich sein? Nach Chrysippus sei die ekpyrosis, das Feuer, in dem der Kosmos am Ende aufgeht, kein Tod im Sinne einer Trennung von Körper und Seele. 16 Es sei eine Erneuerung und der Kosmos lebe weiter.

Was bedeutet das für die Ethik der Stoiker?

Wie oft angedeutet, machen einige Praktiken der stoischen Ethik erst dann Sinn, wenn man erkennt, wie sie mit ihrem Weltbild verbunden sind. Im Folgenden möchte ich ein paar Konsequenzen mehr oder weniger kurz darstellen.

Beten

Epikur, kein Stoiker, macht sich in einem Brief an Phytokles (115) darüber lustig, dass Menschen denken, Gott würde irgendwo sitze und auf Zeichen warten, um aktiv zu werden.

Die Frage ist ja, ob der Wille oder die Struktur der Wirkung des stoischen Gottes durch Gebete verändert werden kann. Die Antwort ist nein. Aber das heißt nicht, dass das Beten keinen Sinn habe.

Dennoch haben wir einen bekannten Text, der wie ein Gebet klingt. Kleanthes' Zeus-Hymnos 17:

Heil dir, erhabenster Gott, mit zahlreichen Namen Verehrter, stets Allmächtiger, Zeus, du Fürst der Natur, der du alles lenkst nach der Satzung, dich dürfen ja sämtliche Sterblichen grüßen:

Dir entstammen wir, stellen von allem, was sterblich auf Erden lebt und wandelt, als einzige dar das Abbild der Gottheit. Deshalb will ich dich preisen, dein Walten immer besingen.

Unser geordnetes Weltall, das rings um die Erde sich breitet, folgt dir, wohin du es führst, läßt gerne von dir sich beherrschen.

Derart hältst du bereit in unbezwinglichen Händen deinen zweischneidigen, feurigen, ewig zuckenden Blitzstrahl.

Jedes Geschöpf der Natur ist dessen Schlag unterworfen; damit bewahrst du die Einheit des Ganzen, die alles Vorhandne machtvoll durchdringt, mit dem riesigen Lichtquell die kleinen verbindend, durchweg bestätigt durch deine Gewalt als oberster Herrscher.

Nichts vollzieht sich auf Erden ohne dein Eingreifen, Gottheit, weder am göttlichen Himmelsgewölbe noch in den Fluten, lediglich das, was die Bösewichter aus Torheit verüben.

Du verstehst das Übermäßige sinnvoll zu stutzen, gleichzeitig Wirres zu ordnen, und schenkst auch dem Unlieben Liebe.

Derart verschmolzest du sämtliches Gute mit Bösem zu Einem, daß sich ein ewiger Sinn im All zu entwickeln vermochte.

Sterbliche Bösewichter versuchen sich ihm zu entziehen; elend die Armen, die stets den Besitz des Guten erstreben, doch die gültige Satzung der Gottheit nicht sehen, nicht hören:

Folgten sie ihr vernünftig, sie führten ein glückliches Leben!

Aber sie stürmen vernunftlos von einem Unglück zum andern, teils um nichtige Meinungen eifrig und leidig sich streitend, teils auf Gewinn erpicht in unzulässigem Maße.

Andere schweifen zuchtlos, ergeben den Lüsten des Körpers, ohne ein sicheres Ziel zu erstreben, bald hierhin, bald dorthin, und ihr Eifer bewirkt das Gegenteil nur vom Erwünschten.

Zeus, Allgebender, wolkenumdüsterter Werfer der Blitze, schütze die Menschen vor Unwissenheit, dem heillosen Übel! Scheuche das Übel, Vater, von dannen, lehre die Menschen jene Einsicht, kraft deren gerecht du den Weltenlauf lenkest!

Denn wir wollen dir, selber geehrt, mit Ehren vergelten, ständig dein Walten besingen, so wie es den Sterblichen zukommt; wird doch Menschen wie Göttern kein höherer Vorzug beschieden, als das für alle stets wirksame Recht gebührend zu preisen.

In einem anderen Artikel werde ich genauer auf diesen Hymnos eingehen.

Als Essenz der Idee des Betens bei den Stoikern können wir mitnehmen, dass es ein Gebet an die (eigene) Rationalität ist.

Dazu auch ein Zitat von Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen 9.4018:

Wer hat dir denn aber gesagt, daß die Götter uns in dem, was von uns abhängt (Anm. Tugend), nicht zu Hilfe kommen? Fange doch nur einmal an, um solche Dinge zu beten, und du wirst sehen. Der fleht: Wie erlange ich doch die Gunst jener Geliebten? Du: Wie entreiße ich mich dem Verlangen danach? Der: Wie fange ich's an, um von jenem Übel frei zu werden? Du: Wie fange ich's an, um der Befreiung davon nicht zu bedürfen? Ein anderer: Was ist zu tun, daß ich mein Söhnchen nicht verliere? Du: Was ist zu tun, daß ich seinen Verlust nicht fürchte? Mit einem Wort: Gib allen deinen Gebeten eine solche Richtung, und du wirst den Erfolg sehen.

Identifikation als Kosmopolit

Dazu Epiktet 1.9

Wer also die Regierung der Welt begriffen hat und einsieht, dass die größte, höchste und umfassendste Gemeinschaft diejenige ist, welche aus den Menschen und Gott besteht [...];  und dass nur diese einer Gemeinschaft mit Gott fähig sind, weil sie durch die Vernunft innig mit ihm verbunden sind, warum sollte, wer dies einsieht, sich nicht einen Weltbürger, warum nicht einen Sohn Gottes nennen?  Warum sollte er sich vor irgendetwas in der Welt fürchten?

Lebenssinn

Nach Epiktet 1.6 haben wir von Gott / der Schöpfung den Zweck erhalten, das Gute in die Welt zu bringen - und das wirkt sinnstiftend.

Für uns hingegen, denen er über dieses hinaus die Fähigkeit zum Verstehen gegeben hat, genügt das nicht mehr, sondern wenn wir nicht nach Maß und Ordnung, wenn wir nicht der Natur und Einrichtung einer jeden Sache gemäß handeln, so erfüllen wir nicht mehr den Endzweck (telos), wozu wir geschaffen sind. [...] Hingegen hat Gott den Menschen zu dem Zweck in die Welt gesetzt, dass er Gottes und seiner Werke Zuschauer, und nicht bloß Zuschauer, sondern auch Ausleger ist.

Akzeptanz & Schicksalsliebe (amor fati)

Die Idee, das Schicksal zu akzeptieren, fußt auf mehreren Ideen der stoischen Theologie.

Der Lauf des Kosmos, die Umsetzung des kosmischen/göttlichen Willens ist unumgägnlich. Einen begrenzten freien Willen gestehen die Stoiker, verkürzt ausgedrückt, uns Menschen zu. Es ist das, was wir unter Kontrolle haben und das Ziel ist, damit das Beste aus jeder Situation zu machen. Die Rede ist vom Gebrauch der Tugend(en).

Wenn wir das, was uns passiert, als Übel interpretieren und mit Emotion versehen, so kann das auf einer Fehlinterpretation basieren. Durch die Harmonisierung des eigenen Willens mit dem göttlichen/kosmischen Willen können wir da wieder "heraus kommen". Das setzt voraus, dass man anerkennt, dass der kosmische, fürsorgliche Wille es für die Gesamtheit seiner Geschöpfe gut meint.

Ohne den Aspekt, dass der Kosmos fürsorglich eingerichtet ist, bliebe die stoische Akzeptanz lediglich eine Schicksalsergebenheit.

Selbstvertrauen

Wir stammen alle ursprünglich von Gott ab, und Gott ist der Vater sowohl der Menschen als auch der Götter. Wer sich diesen Satz sorgfältig einprägt, wird meines Erachtens nicht niedrig von sich denken. [...] Sollte es denn dein Selbstbewusstsein nicht steigern, wenn du vernimmst, dass du ein Sohn des Zeus bist?

Epiktet, in Unterredungen 1.3, weist uns hier darauf hin, dass wir ja eine Verwandtschaft mit dem uns Höchsten denkbaren Lebewesen haben - und das soll unser Selbstvertrauen steigern.

Zum Abschluss

Das Thema ist eines der komplexesten in der stoischen Philosophie. Ich habe versucht, die Sachverhalte so knapp und korrekt wie möglich darzustellen. Falls mir das an einer Stelle nicht gelungen ist, bitte ich um einen Hinweis per Mail.

Ich erachte das Thema als zentral, um die Stoiker zu verstehen und habe für jeden Verständnis, der kein Verständnis für die Ansichten der Stoiker an dieser Stelle haben. Ich mache mir alle diese Ansichten auch nicht zu eigen, auch wenn es im Text manchmal anders klingt.

Falls dieser Artikel große Ähnlichkeit mit einer Podcast-Folge des Stoiker Podcasts hat oder haben wird, so liegt das daran, dass ich ich u.a. mit dem Schreiben dieses Artikels vorbereitet habe.


  1. Cicero "De natura deorum" 2.3 

  2. Algara, Stoic Theologie in The Cambridge Companion to the Stoics 

  3. Sellars, Stoicism 

  4. Sextus Empiricus, adversus mathematicos, 9.133-136 nach Long/Sedley 

  5. Long/Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 395 

  6. Forschner, S. 148 

  7. Forschner, S. 150 

  8. Forschner, S. 149 

  9. ibid. 

  10. https://traditionalstoicism.com/providence-or-atoms-2/ 

  11. Cambridge Companion to the Stoics, Theology V 

  12. Aulus Gellius NA VII 1.1–13 

  13. St. rep. 1051 B-C 

  14. https://www.projekt-gutenberg.org/cicero/weissa1/chap002.html 

  15. https://www.projekt-gutenberg.org/cicero/weissa1/chap003.html 

  16. (SVF 2.604) 

  17. Dichtung der Antike von Homer bis Nonnos, Digitale Bibliothek, Band 30, Übersetzt von Dietrich Ebener; via http://www.decemsys.de/sonstig/quellen/zeushym.htm 

  18. https://www.projekt-gutenberg.org/antonius/selbstbe/chap009.html 

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