Ein zentrales Thema der stoischen Philosophie sind die Tugenden und Werte sowie die Tugendhaftigkeit als Charaktereigenschaft. Für den Stoiker bedeuten die Tugenden bzw. Tugendhaftigkeit die “Exzellenz des Charakters”. Er sieht die Tugenden als das Einzige im Leben mit wahrem Wert. An den Tugenden richtet sich das Handeln aus.
Alles andere sei dann entweder wertlos oder gleichgültig. Siehe dazu auch der Beitrag zum Thema Kontrolle.
Besonders die römische Stoa hat sich viel mit der Ethik, also den Handlungsempfehlungen auf Basis der Tugenden, befasst.
Schmücke dich mit Harmlosigkeit, Bescheidenheit und Gleichgültigkeit gegen alles, was zwischen Tugend und Laster in der Mitte liegt.
– Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen VII 31
Es gibt in der philosophischen Lehre der Stoa die Tugenden (griech. aretê) und Laster oder Untugenden (griech. kakaia). Die Tugendhaftigkeit komplettiere das menschliche Leben und führe zu einem erfüllten Leben. Es ist das Leben im Einklang mit der Natur.
Viel wichtiger aber ist diese Lebensvorschift: das zu tun, was der Natur gemäß ist
– Epiktet, Unterredungen 1.26 – Über das Lebensgesetz
Tugendhaftigkeit bedeutet Harmonie auf den Ebenen des Selbst, der Menschheit und des Universums. Das klingt vielleicht einleuchtender, wenn man es von der anderen Seite betrachtet: Lasterhaftigkeit ist eine Disharmonie mit sich Selbst, der Menschheit und dem Universum.
Man entdeckt seine Laster, indem man seine irrationalen, “negativen” Emotionen (ich nutze das Wort “negativ” im Zusammenhang mit Emotionen ungern, weil es meiner Meinung nach keine negativen, in Form von unnatürlichen oder schädlichen Emotionen, gibt) hinterfragt und erkennt, wie man NICHT tugendhaft sondern auf Basis von unklaren oder irrationalen Meinungen über die Geschehnisse gehandelt hat.
Tugendhaftigkeit äußert sich darin, dass man sich in der Welt zuhause und nicht fremd fühlt – es ist die Vollendung der Vernunft.
Wie hat nun die Natur den Menschen begonnen? Und was ist die Aufgabe und die Arbeit der Weisheit? Was hat sie zu beenden und zu vollenden? Wenn nur eine gewisse Bewegung des Geistes zu vollenden ist, d.h. die Vernunft, so muss für Den, der dies annimmt, das tugendhafte Handeln als das Höchste gelten; denn die Tugend ist die Vollendung der Vernunft.
– Cicero, De finibus, 4.35
Diogenes Laertios schreibt in Buch 7, 92:
[…] Einige Tugenden seien erstrangig, andere untergeordnet.
Erstrangig seien Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit;
Unterarten Großmut, Selbstbeherrschung, Standhaftigkeit, Scharfsinn, Urteilskraft.
Nach Zenon, überliefert durch Diogenes Laertios, sei Klugheit die Fähigkeit zwischen dem Guten, Schlechten und Neutralen unterscheiden zu können.
Großmut sei die Fähigkeit, die den Menschen über das Gute und Schlechte, was allen Menschen passieren kann, erhaben sein lässt.
Selbstbeherrschung sei unerschütterliche Orientierung an den Resultaten der rechten Vernunft oder ein von Lustregungen unbezwingbares Vermögen;
Standhaftigkeit sei das Wissen zu erkennen, woran man festhalten kann und woran nicht bzw. was neutral ist.
Scharfsinn ist die Fähigkeit, das Richtige zu erkennen.
Urteilskraft ist die Fähigkeit seine Handlungen zweckmäßig auszurichten.
Urteilskraft, Intelligenz, Weisheit im Handeln, überlegtes und bedachtes Handeln
Laster: Dummheit oder Gedankenlosigkeit
“Frömmigkeit gegenüber den Göttern”, Wohlwollen, Dienst an der Allgemeinheit, gerechtes Handeln, Gleichheitssinn
Laster: Ungerechtigkeit oder Unrecht
Ausdauer, Vertrauen, Großherzigkeit, Tapferkeit, Liebe zur Arbeit
Laster: Feigheit oder Schlappheit
Organisation, Ordentlichkeit, Bescheidenheit, Selbst-Kontrolle
Laster: Maßlosigkeit
Siehe auch Donald Robertson, Stoicism, Kapitel 2, Seite 37
Analog gebe es auch erstrangige und untergeordnete Laster: Dummheit, Feigheit, Ungerechtigkeit und Zuchtlosigkeit als erstrangige; Unbeherrschtheit, Stumpfsinn und Urteilsunfähigkeit als untergeordnete.
– Diogenes Laertios, Buch 7
Also die Gegenteile der Tugenden.
Für einen Anfänger erscheinen Mäßigung und Mut die am einfachsten umsetzbaren Tugenden, Zenon hält aber dagegen bzw. ergänzt folgendes:
Die Tugenden hängen nach ihnen alle wechselseitig zusammen, so dass, wer eine besitzt, alle besitzt…
Der Tugendhafte nämlich sei Theoretiker und Praktiker zugleich in dem , was zu tun ist. […]
Jede Tugend betreffe hauptsächlich einen eigentümlichen Bereich, wie Mut das feste Ausharren, die Klugheit das, was zu tun, zu lassen oder was neutral ist; ebenso betreffen auch die anderen Tugenden den jeweils zugehörigen Bereich.
– Diogenes Laertios, Buch 7, 125ff
Seneca beschreibt in seinem Brief 120 an Lucilius, wie die Stoiker die Tugenden quasi “entdeckt” haben.
Am Anfang des Briefes geht er auf den Unterschied zwischen dem Guten und dem sittlich Wertvollen ein.
Bei vielen ist ein Gut etwas, was Wert im Außen hat (Pferd, Wein, Haus) und als sittlich wertvoll gilt das, worauf die Definition der normgerechten Handlung zutrifft.
Für die Stoiker sieht es aber so aus:
Nichts ist ein Gut, außer was sittlich wertvoll ist; das sittlich Wertvolle ist in jedem Fall ein Gut.
Er beschreibt, dass die Verhaltensweisen von ehrhaften Menschen verglichen und dabei bestimmte Charakterzüge erkannt wurden. Unter anderem beschreibt er:
Außerdem blieb er immer der gleiche und bei jeder Tätigkeit sich selbst treu, nicht etwa aus Berechnung anständig, sondern durch seine moralische Qualität soweit gebracht, dass er nicht bloß fähig war, richtig zu handeln, sondern überhaupt unfähig, nicht richtig zu handeln.
Dann listet er die stoischen Tugenden auf:
So haben wir die Begriffe Mäßigung, Tapferkeit, Klugheit und Gerechtigkeit gebildet und jedem seine ihm eigene Aufgabe zugewiesen.
Enthüllt hat sie [Vollkommenheit] uns ihre Ordnung, Schönheit, Beständigkeit, die Harmonie in allen ihren Handlungen und ihre sich über alles erhebende Größe.
Daraus hat man die Einsicht in das glückliche Leben gewonnen, das in ungestört glücklichem Lauf dahinfließt, ganz auf sich selbst gestellt.
[…]
Echtes behält seine Eigenart, Unechtes hat keine Dauer.
Das erklärt Seneca im o.g. Zitat: Tugendhaftigkeit verhilft zu einem glücklichen Leben in Harmonie mit sich Selbst, der Menschheit und dem Universum. Wichtig ist folgende Unterscheidung: das Ziel der Tugendhaftigkeit ist die Tugendhaftigkeit – das Gefühl von Glück oder Freude ist ein Nebeneffekt und nicht das Ziel der Tugendhaftigkeit.
Der stoische Weise, so Seneca, der vielgenannte vollkommene Mann, verwünscht niemals das Schicksal und akzeptiert das, was im passiert, nicht missgelaunt. Er betrachtet alles als eine ihm zugewiesene Aufgabe und weniger als ein ihm zufällig widerfahrenes Unglück.
Das deutlichste Merkmal eines minderwertigen Charakters ist der Wankelmut und ein ewiges Hin und Her zwischen geheuchelten Tugenden und der Neigung zu Lastern.
[…]
Bald zeigt er sich so, bald anders und ist, was in meinen Augen am Beschämendsten ist, sich selbst untreu.
Harte, aber wahre Worte, nicht wahr? Doch Seneca weiß, dass das Verhalten des idealen Weisen ein Ideal, also nicht zu erreichen, aber anzustreben ist.
Doch vom Weisen abgesehen, spielt niemand nur eine Rolle, wir übrigen zeigen viele verschiedene Gesichter.
Seneca rät daraufhin, dass wir unsere innere Haltung, unser inneres Streben nach dem Ideal bis zum Tod beibehalten sollen, sodass man sich selbst treu bleibt.
Das Mittel dazu lautet Selbst-Reflexion und dazu gibt es hier einen Artikel